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Wartezimmer-Lektüre
Ein Engel schwebte über uns vorbei von László Krasznahorkai
veröffentlicht in The Yale Review
. . . stets das Böse will, und stets das Gute schafft.“
– Goethe, Faust
Ich bin für alles offen, sagte er, schob die AK-74 etwas weiter weg und griff unter seine kugelsichere Weste, um sich die Achsel zu kratzen. Dann fuhr er fort: „Ich bin froh, dass ich endlich alles sagen kann.“ Bisher hatte er keine Gelegenheit dazu gehabt, er hatte nur ein oder zwei Kleinigkeiten erwähnen können, wenn sie eine Verschnaufpause hatten, obwohl sie wegen des Bombardements nicht geschlafen hatten. Doch jetzt konnte er endlich die ganze Geschichte erzählen, und zwar am Stück. Doch zunächst musste er sagen, dass er kein Zukunftsforscher oder Futurologe sei. Im zivilen Leben sei er Trendforscher gewesen, doch statt Trendforscher bezeichnete er sich lieber als eine Art Beobachter. Und während Zukunftsforscher oder Futurologen in einem Raum saßen und Monitore beobachteten, hatten sie zwar ihre eigenen Methoden, Modelle, Zukunftsräder und so weiter, aber für sie war es unvorstellbar, in größeren Zusammenhängen zu denken, wie er es tat, über die Gesellschaft, die Menschheit, Roboter – diese Dinge brachten sie aus der Fassung – er sei also kein Analytiker der Zukunft, sondern von Trends, Daten, Fakten, erklärte er und betonte jedes der drei Wörter gesondert, doch dann – da nur ein Auge mehr oder weniger intakt war, wenn auch mit etwas verschwommener Sicht – tastete er sicherheitshalber mit der Hand am Rand der Pritschen entlang, auf denen er lag, denn da ihm im ersten Kampfmonat bei Bucha das linke Bein amputiert worden war und die Spazierstöcke, die an der Innenwand des Grabens lehnten, immer wieder herunterrutschten und er auch jetzt wieder keinen greifen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu seinem Nachbarn hinüberzukriechen und nach Brust, Schulter und Hals des anderen zu tasten und dessen Kopf vorsichtig auf das Polster seiner zusammengerollten Feldjacke zu ziehen, da er bemerkt hatte, dass dieser Kopf in den Schlamm zu rutschen begann, und dann brachte er sein verschwommenes rechtes Auge näher an die verbundene Bauchwunde des anderen Mannes, starrte sie eine Weile an und erklärte dabei: Schau her, mein Freund, es ist eine ganz einfache Formel, es gibt ein geschlossenes System, die Erde, die Bevölkerung wächst, jetzt sind es siebeneinhalb, bald werden es acht Milliarden sein, und wir tun so, als wäre das eine Riesenüberraschung, aber nein, wir wissen seit einem halben Jahrhundert, dass diese Vielzahl von Menschen letztendlich eine Form automatisierter Zusammenarbeit brauchen würde, natürlich haben wir das gewusst und gespürt, und deshalb – und hier signalisierte er mit einer Geste, dass gleich eine Bemerkung in Klammern folgen würde – hatte es ihm so gefallen, als vor über fünfzig Jahren in dem Film 2001: Odyssee im Weltraum eine der Figuren, die ein flaches Dingsbums in den Händen hielten, etwas darauf drückte, um nach Belieben etwas zu erreichen, zu bewegen, zu starten oder anzuhalten, und heute erscheint uns das so selbstverständlich, nicht wahr? Aber damals war es überhaupt nicht selbstverständlich, es war Unsinn, reine Fantasie, kindische Einbildung, wir haben darüber gelacht, aber heute hat man sein Smartphone in der Hand und kann jeden erreichen, früher war es so, dass die Leute nicht mit jemandem in der Ferne redeten, wie auch? Es gab kein Telefon und so weiter, und er verzog das Gesicht, als gefiel ihm der blutige Verband auf seinem Bauch nicht, und kroch zurück zu seinen eigenen Pritschen. Zwei für seinen Kameraden und zwei für sich selbst hatte er irgendwie nebeneinandergeschoben, während er auf einem Bein und einem Arm im Schlamm taumelte, und das alles in einer ausgehöhlten, gut versteckten Höhle, wo sie nicht entdeckt worden waren, nachdem ihr ganzer Zug eines besonders heftigen Angriff zufolge zur Flucht gezwungen worden war, so dass plötzlich jeder auf sich allein gestellt war, Hals über Kopf – gegen die beiden war nichts zu machen, und sie waren zurückgeblieben, als die Orks über sie hinwegrasten, die Dreckskerle bemerkten nur flüchtig den leeren Graben, sahen sie nicht in ihrer Höhle, wo sie nun auf Pritschen lagen und darauf warteten, dass jemand zurückkam, um sie abzuholen, wann immer das möglich war, obwohl es nicht möglich gewesen war, der Beschuss hatte nicht nachgelassen, und sie lagen seit mehreren Stunden hier in dieser Höhle auf zwei mal zwei Paletten, er hatte nicht auf die Uhr geschaut, sein verschwommener Blick hätte die Zeiger auf dem Zifferblatt nicht erkennen können, und außerdem wollte er die Uhrzeit nicht wissen, es war egal, dass der Sergeant ihnen zurückgeschrien hatte, er würde die Sanitäter schicken, die Offensive hatte seitdem keine Sekunde nachgelassen, der Beschuss ging ununterbrochen weiter, und hier waren sie in dieser Höhle, auf zwei mal zwei Paletten, und was, fuhr er fort, sollte er tun? Er liebte einfach solche Fortschritte, solche geistigen Sprünge, wie sie es uns ermöglichen, mit Menschen auf der anderen Seite der Erde zu sprechen, ich meine, ist das nicht verrückt? Wie das alle Geschäftstransaktionen und die Kommunikation radikal verändert hat, alle Informationen, die dich an einem einzigen Tag erreichen, du schaust dir Instagram an, scrollst einfach nach unten, und während du die Straße entlanggehest, siehst du diese riesigen Anzeigen, die riesigen Werbetafeln und die Leuchtreklame an der Bushaltestelle, die dir sagt, wann der nächste Bus kommt, die Informationen, die du an einem einzigen Tag sammelst, sind für einen mittelalterlichen Leibeigenen so wertvoll wie ein ganzes Leben lang, und erinnere dich, wie in zwanzig Jahre alten Kommunikationslehrbüchern stand, dass acht Ablenkungen am Tag dich daran hindern, dich zu konzentrieren, und heute? Mit acht Ablenkungen kommt man morgens gerade mal bis zur Toilette, denn unterwegs checkt man auf dem Handy, ob man neue E-Mails und SMS hat und was bei Instagram und Twitter los ist, und überfliegt dann die Schlagzeilen. Wir agieren auf eine völlig neue Art und Weise, wir leben ein viel reicheres und interessanteres Leben. Jeder Teenager von heute ist zum Beispiel viel, viel besser im Multitasking als, sagen wir, Leonardo da Vinci. Ja, er war ein Genie, es gab nie einen anderen wie ihn, aber er war nicht in der Lage, Multitasking zu betreiben. Er hat immer nur eine Sache auf einmal gemacht, hat zwei oder drei Tage lang eine Sache gemacht, wohingegen heute? Wie aufregend ist das denn?
Ja, aufregend.
Nun ja, er war jetzt ein einfacher Fußsoldat, denn es hatte keinen Sinn, ihnen zu erzählen, was er tat, sie hielten ihn für ungeeignet für höhere Aufgaben, denn was bedeutete das schon, wenn man die Dinge auf gesellschaftlicher Ebene betrachtet? Wenn wir das Vaterland verteidigen, braucht man praktische Männer, und er – und das hatte er vor dem Rekrutierungskomitee nicht bestritten – war ein ausgesprochener Theoretiker, aber trotzdem würde er sich mit einem Bein auf dem Fuß wieder der Infanterie anschließen, und sie würden antworten, man brauche nur einen Finger am Abzug, und er würde nicht sagen, dass er nicht enttäuscht sei, denn ein bisschen enttäuscht war er, er war im Alltag sehr geschickt im Umgang mit Computern, und dennoch zog er mit seiner theoretischen Neigung einen Ansatz über die Kultur vor, das war es, was ihn wirklich interessierte; mit anderen Worten, der ganz große kosmische Maßstab, die Sterne und dergleichen, war nichts für ihn, und die psychologische Ebene, das Individuum, war ebenfalls nichts für ihn, aber Kultur, ja, und Subkulturen, mit anderen Worten, die Art und Weise, wie sich Menschen verändern, das ist es, was er immer studiert hat, die Art und Weise, wie wir uns im Laufe der Geschichte entlang technologischer Linien neu programmiert haben, und jetzt sind wir mitten in einer solchen Neuprogrammierung, wir erfassen die Welt auf neue Weise, kommunizieren auf neue Weise, leben auf neue Weise, und das alles aus einem bestimmten Grund, und man beginnt zu begreifen, was dieser Grund ist, warum Menschen Dinge tun, denn wir müssen verstehen, dass Kultur eine Überlebensstrategie der Menschheit ist, es gibt Unmengen von Arten auf der Erde, und unsere hat sich für die Kultur entschieden, um zu überleben; manche Arten wählten eine riesige Anzahl von Zähnen, andere ließen sich riesige Schwänze wachsen, um ihre Beute zu zermalmen, wieder andere einen monströsen Kiefer, oder ein Gift, oder einen elektrischen Strom, aber wir, sagte er – während er im anhaltenden Bombardement die Wurzeln beäugte, die aus den beiden Wänden des Grabens ragten – wir wählten die Kultur, und ein Trendanalyst wie ich analysiert – mit Daten, Fakten, Informationen! – die Probleme, die diese Kultur lösen kann und die, die sie nicht lösen kann, die Dinge, die durch Technologie gelöst werden können und die Dinge, die nicht gelöst werden können, aber es geht immer um die Menschen, auf sie zu blicken ist interessant, auf die Fortschritte, die wir machen, warum wir dies oder das tun, denn es ist lebenswichtig, dass man die wirklichen Veränderungen versteht, für mich ist es egal, welches Handy mit welchen neuen Funktionen in welchem Modell auf den Markt kam, das ist überhaupt nicht interessant, aber was bedeutet es wirklich, dass wir uns miteinander vernetzt haben, dass wir plötzlich alle gleichzeitig Angst haben oder alle gleichzeitig einander vertrauen, wir haben noch nie zuvor mit einer solchen Geschwindigkeit gelebt, noch nie gab es so viele von uns, das Leben war noch nie so geschäftig, ich finde das alles höchst interessant. Zunächst einmal gehe ich – und er zeigte auf sich selbst – immer davon aus, dass jeder glücklich, wohlhabend und gesund sein möchte, und in verschiedenen Epochen haben wir immer verschiedene Strategien eingesetzt, um dies zu erreichen, und es ist offensichtlich, dass wir uns in diese Richtung bewegen, dass jeder so lange wie möglich leben möchte, so reich wie möglich, so glücklich wie möglich sein möchte, und mehr noch, wir haben es bereits erreicht, und ich habe die Zahlen, die es beweisen: Während 99 Prozent der Menschheitsgeschichte hungerten 99 Prozent der Menschen, 1880 lebten noch 88 Prozent der Menschen in bitterer Armut, 1980 waren es 40 Prozent, 2018 waren es 10 Prozent, und wir haben unsere Lebenserwartung verdoppelt und verdreifacht, und natürlich gibt es mittlerweile viel zu viele von uns, und wir haben die natürlichen Ressourcen aufgebraucht, aber trotzdem – und hier hob er den Zeigefinger – war die Menschheit noch nie so wohlhabend, Jahrhunderte lang haben sich die wirtschaftlichen Kapazitäten nie geändert, im Jahr 1800 verdiente ein Mann in Italien ungefähr so viel wie ein Mann im Italien des Jahres 1300, nämlich etwa 1.600 Dollar, aber hundert oder hundertfünfzig Jahre nach der Einführung von Innovationen, die die Konsumwirtschaft ankurbelten – die Dampfmaschine, die Eisenbahn, Glühbirnen, Autos, Geschirrspüler, Geschirrspüler!!! –, brach nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich der Wohlstand über uns herein, die menschliche Lebenserwartung stieg von 40 auf 80 Jahre, die Weltwirtschaft wuchs um das Zweihundertfünfzigfache, ja, wir wurden sehr reich, wenn man die beiden Bilder gegenüberstellt, wird man sehen, dass im 19. Jahrhundert die reichsten Menschen in der reichsten Nation nicht so gut lebten wie die ärmsten Menschen im ärmsten Land heute, aus wirtschaftlicher, ich wiederhole, wirtschaftlicher Sicht, und wenn man darüber nachdenkt, könnte man Könige beneiden, aber in diesen ungeheizten Schlössern herumzusitzen, Nachttöpfe zu benutzen, abgeschottet von den Nachrichten, nun ja, nein, nein. Übrigens, natürlich sind Trendanalysten keine Dummköpfe. Wir wissen, dass es Elend, Unglück und Armut gibt, aber wenn wir die Spezies betrachten, hat die Menschheit noch nie einen so hohen Lebensstandard erreicht. „Oh, Moment mal, Scheiße, du rutschst schon wieder ab, mein Freund“, unterbrach er sich, und da er nicht genug Kraft hatte, um rüberzukriechen, schrie er: „Hey, wach auf!“, während der andere Mann langsam den Kopf hob, ohne die Augen zu öffnen, obwohl er beide noch hatte. Er konnte nur antworten:
„Weiter!“
„BM-21“, verkündete er nun, als würde er etwas Neues sagen, „aber seit der direkten Konfrontation wurde ununterbrochen mit diesen Waffen geschossen, und er hielt den Atem an, zählte alle vierzig, wartete dann einen Moment, holte tief Luft und fuhr fort: „Ja, vieles, was wir heute für selbstverständlich halten, war es nicht immer: Gleichheit vor dem Gesetz, Frauenrechte, Menschenrechte und so weiter, und seit der Jahrtausendwende, aber besonders seit 2019, haben wir die Wahlfreiheit, viele Menschen haben jetzt viel mehr Möglichkeiten, man kann ins Ausland reisen, man kann dieses oder jenes Fach studieren, man kann sich einem Hobby widmen, es gibt viele neue Jobs, die sehr interessant und sehr kreativ sind, obwohl ein Mensch aus dem Mittelalter davon nichts verstehen würde, wie kann man das Arbeit nennen, wenn man einen Makler in einem Kiewer Büro sitzen sieht, der den ganzen Tag Knöpfe drückt?“ Man könnte diese Person nicht davon überzeugen, dass dieser Makler Wert schafft, dass es sich tatsächlich um Arbeit handelt, die zum Gesamtergebnis beiträgt, wo es nicht mehr auf die bloße Produktion ankommt, sondern auf Kreativität. Denn Kreativität ist zum größten Kapital geworden. Es geht nicht mehr nur darum, Inhalte ans Ziel zu bringen, sondern sie dann zu liefern, wenn sie benötigt werden. Und mittlerweile kommt es vor allem darauf an, Informationen zum richtigen Zeitpunkt mit einer bestimmten Situation zu verknüpfen, anstatt sie zu ver — Doch bevor er ausreden konnte, sprach der andere Mann neben ihm:
Weiter!
Woraufhin er nur bemerkte: „Oh, gut, sehr gut, mein Freund. Ich bin froh, dass du lebst. Mach weiter so, mein Freund. Denn das Leben ist etwas Erstaunliches. Was ihn zum Beispiel am meisten amüsierte, war, wie wir unsere uralten Träume verwirklicht hatten – denken Sie nur daran, wie die Polynesier vor fünftausend Jahren in ihren kleinen Booten überall herumfuhren und Hunderte von Meilen zurücklegten, um mit denen zu sprechen, die weit weg waren. Und jetzt haben wir dieses Problem gelöst, wir haben das Telefon. es gab eine Zeit, da nannte man das Telepathie, aber nein, es ist nicht telepathisch, es ist telefonisch, schade, dass unsere beiden inzwischen nicht mehr funktionieren, aber das Telefon auf der Ebene der menschlichen Spezies existiert, und wir beide werden bald eins in der Hand haben, denn ich bin sicher, dass die Sanitäter bald kommen werden, aber in der Zwischenzeit möchte er sagen, dass wir schon immer alles wissen wollten, Geister beschwören, auf den Schamanenbaum klettern, und, nun ja, jetzt haben wir das Internet, oder, um etwas anderes zu nennen, wir wollten schon immer, dass jemand anderes an unserer Stelle arbeitet, und, nun ja, jetzt haben wir Roboter, wir wollten schon immer jede Sprache können, und jetzt haben wir Google Translate, ja, so viele Dinge, die wir früher mit der höchsten, der außergewöhnlichsten intellektuellen Leistung in Verbindung gebracht haben, gibt es heute schon, zum Beispiel war es früher ein ungeheuerlicher Segen, sich nicht zu verlaufen, Menschen mit Ortungsfähigkeiten hatten einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert, und heute macht GPS all das für jedermann verfügbar, deshalb höre ich es nicht gern, wenn sich Leute darüber beschweren, in welcher Art von Welt wir leben, sie kleben alle an ihren Smartphones, denn es kommt darauf an, was man damit macht, man liest oder chattet darauf, oder man checkt die Laborergebnisse des letzten Bluttests, weil sie bereits in der Cloud gespeichert sind, oder man scannt den Markt, um zu sehen, wie es in dieser Minute mit Bitcoin steht, also müssen wir insgesamt zugeben, dass wir mit dem Smartphone sehr viele Dinge gelöst haben, nicht alle Dinge, aber sehr viele, was uns zu der Frage führt, wozu die digitale Kultur gut ist, also, ich sage es dir, nur bleib bitte wach!
Ich bin wach, mach weiter.
Na gut, du lebst also, mach weiter so, denn diese Welt ist großartig. Und in dieser Welt – und das ist mittlerweile ein Klischee, aber ich wiederhole es immer wieder – gibt es mittlerweile so viele von uns. Stell dir vor, wir sind um Viertel vor Mitternacht zu zehnt in einem engen Raum, und um fünf Minuten vor Mitternacht kommen dreißig weitere hinzu, und jetzt sind wir wie Sardinen zusammengepfercht. Wir sind in die Städte gezogen. Städte sind eine gute Sache, sie haben alles. Und obwohl die Erde schon immer ein ländlicher Planet war, setzte 1980 oder 2000 die Urbanisierung richtig ein. Mittlerweile lebt die Hälfte der Bevölkerung in Städten, bald werden es zwei Drittel sein. Viele Fremde leben nun Seite an Seite. Und obwohl Städte tatsächlich eine gute Sache sind, mit Arbeitsplätzen, Unterhaltung, Kultur, Kunst, Bildung, Gesundheitsversorgung, sind wir uns doch fremd und haben Angst vor Fremden. Dabei nutzen wir die digitale Kultur erst seit fünf oder zehn Jahren. Jahre, Handys, Tablets und so weiter, wir mögen es so sehr, es ist uns ans Herz gewachsen, es ist so wichtig geworden, und ich für meinen Teil – und hier rieb er seine kugelsichere Weste – habe Angst auf der Straße, jeder ist ein Fremder, aber trotzdem, wenn du um 2 Uhr morgens betrunken nach Hause gehst, drückst du einen Knopf, ein Fremder kommt mit einem Auto, sagen wir einem Uber, und du steigst ein, sie bringen dich nach Hause, oder du fährst mit deiner Familie zu einem Fremden nach Odessa, in den Urlaub, und das ist in Ordnung, aber so war es noch nie, früher hat dich dein Kumpel mitgenommen oder dein Nachbar hat dir geholfen, aber dass Fremde sich vernetzen, nein, nie zuvor, das passiert erst jetzt, weil wir es so vielen Fremden ermöglichen mussten, in Städten zusammenzuleben, und von nun an ist es vergeblich, sich darüber zu beschweren, dass die Leute zu viel Zeit mit ihren Handys verbringen, so ist es und so wird es sein, jeder wird seine eigene persönliche Geräte, in ihre Kopfhaut implantiert oder in ihre Handgelenke eingenäht, was macht das schon für einen Unterschied, wir werden immer mehr Verbindungen zu Maschinen herstellen, bis wir nicht einmal mehr wissen, ob etwas von einem Menschen oder einer Maschine kommt, der Punkt ist, dass – und er hob wieder seinen Zeigefinger – es wird nicht einmal mehr wichtig sein, dass wir das vorher nicht konnten und jetzt können wir es, und das ist alles gut, mittlerweile leben wir in einer vernetzten Gesellschaft, wir sind in der Lage, Geld, Wissen, Künstler und Sammler zu verbinden, zum Beispiel kann der digitale Künstler von nun an ein NFT-Kunstwerk mit hundertprozentiger Authentizität als einzigartiges Kunstobjekt verkaufen, früher bauten wir Straßen, jetzt bauen wir Netzwerke, ein unsichtbares Netz umgibt uns, und wir werden gezwungen sein, Verwendungsmöglichkeiten dafür zu finden, und seine Nützlichkeit wird einfach sie selbst sein, und ich für meinen Teil bin sicher, dass die Verwüstung der Erde mit Hilfe der digitalen Kultur behoben werden wird, wir werden es schaffen, weil wir müssen, wir haben bereits die Technologien, oder wenn nicht noch nicht, werden wir sehr bald Sie, und hier senkte er die Stimme, weil sein Mund trocken war, und er tastete nach einer Flasche neben sich, nahm einen Schluck und räusperte sich …
Weiter!
Ja, ja, sagte er, so wird es tatsächlich sein – alles würde genau so sein, wie er es gesagt hatte. Man könnte Witze machen und sagen, er spreche nur, um seinen Kameradengeist aufrechtzuerhalten, was teilweise stimmte, aber es gab noch einen anderen Grund: Die Zukunft, in der wir bereits stecken, wird tatsächlich so radikal neu sein (es war so offensichtlich, dass dies kein Wunschtraum war und schon gar nicht als Trost gedacht). Ich kann nicht anders, als das Offensichtliche zu wiederholen: Wir stehen erst ganz am Anfang der Zukunft. Ja, und jetzt kommt es darauf an: Wir sind tatsächlich sehr reich geworden, aber der Raum ist zu voll geworden. Das bedeutet, dass wir von nun an nicht mehr nach einem besseren Leben streben, sondern nur noch unseren aktuellen Lebensstandard halten wollen, das, was wir haben. Mittlerweile dreht sich alles um Interaktion, und die Initiativen kommen von unten, sodass jetzt du und ich und jeder unsere Bedürfnisse und Wünsche äußern können, was enorm ist – mit anderen Worten, wir können uns alle gemeinsam, kollektiv oder was auch immer, zusammenschließen. und gestalten, was kommen wird – das wird lebensnotwendig sein, denn der Lärm ist unglaublich geworden, und ich beziehe mich nicht darauf, und hier hob er den Kopf, als eine weitere Ladung Grad-Raketen über ihn hinwegsauste, was ihn einen Moment innehalten ließ, um zu sehen, was passieren würde, aber nichts geschah, und nachdem alle vierzig über ihn hinweggezischt und irgendwo anders niedergeschlagen waren, nahm er den Faden wieder auf und sagte, dass die Interaktion –
Glaubst du, sie kommen zurück, um uns zu holen?
Du meinst, aus der Zukunft, mein Freund? Nein, von dort nicht, aber natürlich werden sie zurückkommen, um uns zu holen, das ist klar, sagte er, denn wir werden einen Gegenangriff starten, also mach dir nicht gleich in die Hose wegen einer kleinen Bauchblutung, sie werden bald zurück sein, und bis dahin konzentriere dich bitte auf das, was ich sage, wo war ich, ja, jede Handlung ist Teil des Interaktionsprozesses geworden, und mit der Zeit wird es noch mehr werden, nimm zum Beispiel die Tatsache, und ich wiederhole, die Tatsache!, dass wir gerne persönliche Bindungen zu Dingen eingehen. Wenn ich also ein digitales Armband bekomme, genauer gesagt ein Paar dieser Bond-Touch-Armbänder mit blauem Display, spüre ich, wie es ein Teil von mir wird, weil es mich mit meiner Liebe verbindet, und hier wandte er sich seiner Gefährtin zu, wie heißt deines denn, meines heißt nämlich Zorya, schöner Name, nicht wahr? sie wird auch so ein Armband tragen, und so wird es natürlich zu etwas ganz Persönlichem, es trägt deine eigenen Erfahrungen, deine eigenen Gedanken in sich, sodass wir emotional darauf reagieren, zum Beispiel wird es ihn mit Zorya verbinden, wenn sie getrennt sind, wie jetzt gerade, wenn sie irgendwo in Hamburg ist, in der Lauensteinstraße 15, während er hier in diesem Drecksloch sitzt, und dann wird die Beziehung zu diesem Armband an seinem Arm eine ganz andere sein, eine ganz andere, als wenn er zum Floristen geht und einen Strauß frischer Rosen nach Hamburg schickt, zu Zorya in die Lauensteinstraße 15, eine ganz andere, bald wird er so ein kleines Gerät tragen, und Zorya auch, es wird sein Weihnachtsgeschenk für sie sein, dieses kostbare kleine Armband, und so wird aus diesem lieben kleinen Bond Touch Zorya, dein Kopf baumelt schon wieder im Schlamm, schalt er seinen Begleiter und tat, als wollte er noch einmal von seinem Platz herunterklettern und zu ihm rüberkriechen, aber er tat nur so, das Blut lief ihm ständig übers Gesicht Das linke Auge war verbunden, obwohl es nicht mehr richtig strömte, aber es floss trotzdem noch, so war es schon seit Stunden. Er versuchte, den Verband ein wenig zu verschieben, aber das schien es nur noch schlimmer zu machen, also hielt er schnell inne und wandte sich wieder seinem Begleiter zu:
Ich spüre nichts.
Natürlich nicht, räumte er ein, und da er keine neuen Verbände binden konnte, müssen wir das einfach gemeinsam durchstehen, sonst verrecken wir hier. Aber um ihnen eins auszuwischen, weigern wir uns, hier zu verrecken, also hör mir noch ein bisschen zu. Er kroch hinüber, um den baumelnden Kopf des anderen Mannes wieder in Position zu bringen, und nachdem er ihn wieder auf die gefaltete Jacke gehoben hatte, tastete er nach dem Verband auf dem Bauch des Mannes, um zu prüfen, ob der Knoten noch fest genug um die Taille saß, dann kroch er durch den Schlamm zurück zu seinen eigenen Paletten, tastete nach dem Rand, wand sich wieder hinauf, stöhnte, wischte sich die blutige Hand an der Hose ab, widerstand dem Drang, wieder seinen Augenverband, während die Worte nur so aus ihm heraussprudeln, hier kommen wir zum nächsten Punkt, denn in der digitalen Welt ist es so, dass wenn man etwas ins Internet hochlädt, es für immer dort bleibt, was uns nicht ganz klar ist, weil wir denken, dass das, was wir hochladen, gar nicht existiert, und doch existiert es, und es bleibt für alle Ewigkeit dort, sodass es unsere Verantwortung ist, nur Daten hochzuladen, die wir wirklich und wahrhaftig bekannt machen wollen – und das ist wichtig, wenn man etwas einmal hochgeladen hat, verschwindet es nicht, selbst wenn man es löscht, niemals – also müssen wir unsere Einstellung ändern, und wir werden sie tatsächlich ändern, unsere Einstellung weltweit, denn die digitalen Systeme zwingen uns, disziplinierter, bewusster und intelligenter zu sein, genau wie wir es auch in anderen Lebensbereichen sein wollen, und jetzt wird er etwas sagen, das Sie vielleicht höchst überraschend finden, nämlich dass nichts umsonst ist, wenn Sie glauben, etwas umsonst zu bekommen, dann bedeutet das, dass Sie selbst das Produkt sind, wie man so schön sagt, und so steht die Sache tatsächlich, was, etwas umsonst!?! wie könnte es jemals umsonst sein?! eine App muss für welchen Zweck auch immer erstellt und gestaltet werden, die entsprechende Technologie muss gefunden werden, sie muss entwickelt, optimiert und aktualisiert werden und tausend andere Dinge. Wie kann das alles kostenlos sein? Diejenigen, die sie kostenlos anbieten, kaufen im Gegenzug Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Verhalten. Sie werden bestimmte Anzeigen sehen und Ihre Reaktion auf die in diesen Anzeigen gezeigten Artikel beeinflussen. Meiner Meinung nach ist das völlig in Ordnung. Ja, es ist Manipulation, aber im Grunde nicht anders als das, was die Hausierer früher gemacht haben: Sie haben ihre eigenen Produkte angeboten und sie angepriesen, damit Sie Lust auf einen Kauf haben. es ist nicht mehr wie bei dem alten Hausierer, heute sind die Maßstäbe viel größer und die Gewinne enorm, genug gesagt über die verfluchten Spieler der größten digitalen Konzerne der Welt, denn es ist wahr, natürlich ist es wahr, dass Facebook jährlich zwölf Dollar pro Verbraucher verdient, ja, das ist wahr, aber sie geben dir etwas dafür, ja, du kannst ihre Plattform kostenlos nutzen, und im Gegenzug verkaufen sie Daten über dich, Daten, auf denen die Werbung basiert, das ist ein Geschäft, das sich schlecht anhört, aber tatsächlich zu guten Dingen führt, also ist das nicht das Problem, das Problem ist, dass wenn du dir dessen nicht bewusst bist, weil es dich einfach nicht interessiert, dann wirst du denken, dass Facebook, Twitter und Insta kostenlos sind, aber zum Teufel sind sie es, du verkaufst dich ihnen für Werbung, so ist das, das musst du dir bewusst sein, du musst wissen, was du bekommst und für wie viel, und wenn das der Fall ist, solltest du verlangen, bezahlt zu werden, wir müssen unsere Sorglosigkeit und unsere Bequemlichkeitssucht ablegen, Dummheit ist ein Handicap, Technologie ist einfach Technologie, sie macht bestimmte Dinge nur möglich – ob du sie nutzt oder nicht, es ist deine Entscheidung. Du darfst keine Angst vor Technologie haben, und wenn du ein Smartphone hast, bist du nie wieder verloren, du kannst von zu Hause aus arbeiten, Musik hören, eine Pizza bestellen, und, um es noch einmal zu betonen, weil das wichtig ist, all das verändert uns, ja, wir müssen uns ändern, und wir sind in der Lage, uns zu ändern. Nehmen wir zum Beispiel das Rauchen. Als wir es in geschlossenen Räumen verboten haben, dachte eine Zeit lang niemand, dass das passieren könnte, dass die Hölle losbrechen würde, aber es gab keinen Aufstand, und heute ist es schwer vorstellbar, dass jemand in der Öffentlichkeit in geschlossenen Räumen raucht, wenn andere anwesend sind, und das hat nicht sehr lange gedauert, der Prozess geht erstaunlich schnell, wir können sehr leicht lernen, wir können uns sehr leicht ändern, warum, wir könnten die Armut in zwei Tagen ausrotten, mein Freund, wir haben die Geschäftsmodelle –
Ich glaube nicht, dass sie zurückkommen werden
Natürlich werden sie das, verdammt noch mal, sie würden uns nicht zurücklassen, hört auf zu jammern, hört mir einfach zu, wir sind viel zu verschwenderisch, und jetzt, jetzt in einem halsbrecherischen Tempo, müssen wir damit aufhören, verschwenderisch zu sein, denn unser Lebensstandard wird sinken, individuell wie auch, was zählt, global, aber da ist noch etwas anderes, etwas, das wir die Fähigkeit nennen könnten, Kathedralen zu bauen, eine Fähigkeit, die wir völlig verloren haben, nehmen wir das Mittelalter, ich liebe mittelalterliche Beispiele, als die Stadtbewohner beschlossen, okay, bisher haben wir uns kleine Hütten gebaut, aber lasst uns jetzt ein prächtiges Gebäude errichten, das unseres Gottes würdig ist, und sie begannen zu bauen, aber sie taten dies in dem Wissen, dass sie zu ihren Lebzeiten nie zu sehen bekommen würden, was dreihundert Jahre später die Urenkel ihrer Urenkel tatsächlich sehen würden, und trotzdem begannen sie zu bauen, wohingegen wir heute sehr kurzfristig denken, warum sind wir geschrumpft, das hätten wir nicht tun sollen – wir müssen unsere Fähigkeit, Kathedralen zu bauen, wiedererlangen, und weißt du, warum? Weil wir Träume brauchen, wir brauchen große, mutige Visionen –
Scheiß auf Visionen, ich brauche Wasser.
Hier gibt es kein Wasser. Nimm Wodka, der hilft, wenn du Durst hast. Okay, du willst keinen, na gut, ich verstehe, aber bitte, du solltest nicht jammern und stöhnen. Ich sehe, dass du Schmerzen hast, ich auch. Ignorier es – hör mir zu, Kultur ist ein Code, darüber lohnt es sich nachzudenken, ein Code, den man lesen kann, um zu sehen, wie Menschen sind, was sie wollen, was sie lieben, was sie fürchten, was sie für gut oder schlecht halten, was ihre Ziele sind und so weiter. früher, wenn man einen Druck in der Brust spürte, wusste man ganz genau, dass sich ein Alptraum im Schlaf auf einen gesetzt hatte, einen dann umkreiste und wieder wegflog, und man war froh, dass man so glimpflich davongekommen war, während wir heute wissen, dass es Sodbrennen ist, wir wissen so viel, wir sind sehr rational geworden und können die Realität viel schneller erfassen, aber unsere Aufmerksamkeitsspanne ist viel kürzer, und während wir uns andererseits sehr schnell verwandeln können, ging man im Mittelalter ganz anders auf der Straße als wir, sein Schuhwerk war viel gröber und die Sohlen dünner, außerdem gab es keinen Bürgersteig, höchstens ein grobes Kopfsteinpflaster, alles Mögliche stach und piekste in einen, also senkte man zuerst eine Zehe, dann eine Ferse, jetzt ist unser Gang völlig anders, und hier springen wir wieder auf die nächste Ebene – was ist hier los? Biologische Veränderungen durch eine technologische Revolution? – Ja, genau das ist es. Wir können unsere Augen nicht vom Telefon abwenden, nicht einmal beim Gehen, und infolgedessen hat sich unser peripheres Sehen deutlich verbessert, während unser Gefahrenempfinden abgenommen hat. Soll ich dir die Daten liefern? Nein? okay, dann mache ich das nicht, nehmen wir zum Beispiel die Zeit, wir glauben alle an die Zeit, wir gehen umher, schauen auf die Uhr, planen unseren Tag, wir planen jetzt, was wir in zehn Minuten tun werden, oder in zehn, zwanzig Jahren, oder nehmen wir Roboter, da sind sie, warum zum Teufel sollten wir Angst vor ihnen haben, wir können all die Dinge an Roboter delegieren, die uns schon immer gelangweilt haben, aber erledigt werden mussten, und was passiert, wenn ein Roboter es tut? Wir bekommen Freizeit für Sport, Unterhaltung, Studium, um immer neue Dinge zu lernen, und an dieser Stelle, obwohl ich das normalerweise nicht tue, gebe ich etwas zu, denn im Moment ist es noch ein Problem, nämlich, wenn ich heute, Betonung auf heute, etwas Freizeit habe, dann möchte ich sie sofort mit etwas füllen, während ich froh sein sollte zu existieren, einfach am Leben und gesund zu sein, das Licht auf den Blättern der Bäume schimmern zu sehen, das Wasser über den singenden Steinen des Bachs murmeln zu hören, das hohe Gras um meine Füße rascheln zu hören, ist das nicht die Idee? hier zu sein, nicht wahr? nun, natürlich ist es das, und dies ist eine erstaunliche Leistung, und wir sollten sie nicht aufschieben und hinter der Zukunft verstecken. Ich weiß, das klingt komisch, wenn es aus dem Mund eines sogenannten Zukunftsforschers kommt, aber so ist es nun einmal, das sollten wir wirklich nicht. Und dann bedenke Folgendes: Wir sind eine werkzeugnutzende Spezies, und dies ist das erste Mal in der Geschichte der Lebewesen, dass eine werkzeugnutzende Spezies die Aufgabe an das Werkzeug übergibt. Sehen Sie, Roboter sind interessant, weil sie die digitale Kultur in die physische Sphäre bringen und sich mit unheimlicher Geschwindigkeit weiterentwickeln. Und was Roboter heute können, wird nie verloren gehen, sie werden nur intelligenter werden. Roboter sind dazu bestimmt, sich weiterzuentwickeln, genau wie wir. Und ich für meinen Teil, sagte er, habe keine Angst vor Robotern, ich mag sie. Natürlich können Roboter unheimlich wirken, aber das Rad galt auch für sie, und das Teleskop, die Dampfmaschine und rasende Autos und Flugzeuge. Die Liste muss nicht fortgesetzt werden. manche Dinge mögen auf den ersten Blick beängstigend erscheinen, aber dann gewöhnen wir uns an sie und nutzen sie, und indem wir sie nutzen, lernen wir sie lieben, und wir sollten akzeptieren, dass sie nun einmal so sind, dass sie für uns da sind, also sollten wir keine Angst haben. Ein Roboter hat keine Wünsche, keine Gefühle. Wird er dich verführen? Und dich dann erschießen? Warum sollte er so etwas jemals tun?! Hab keine Angst, alles wird gut, es wird sogar super –
Ich habe Durst.
Ich habe es dir doch gesagt, gab er zurück, wir haben nur Wodka. Wenn du keinen willst, na gut, was, damit deine Wunden ausspülen? Nein, nein, das ist kostbarer Wodka, Wasser gibt es später. Bleib ruhig, diese verdammten Grads sind fast vorbei, und zur Hölle mit ihnen, hör einfach nicht darauf. Wenn es wehtut, lass es wehtun, Schmerz ist gut, er zeigt, dass der Körper kämpft, möge er weiterkämpfen, aber hör mir in der Zwischenzeit zu, du machst das gut. Jetzt kommen wir endlich zum Geld und wie wir es verwenden. Ja, geben wir zu, wir verwenden es, aber in Wirklichkeit verstehen wir nicht, was Geld eigentlich ist. Wir halten es für etwas Physisches, weil wir damit umgehen, und du glaubst, du hältst einen Tausend-Hrywnja-Schein in der Hand, dabei ist er, und das schon seit sehr langer Zeit, nur ein Stück Papier, sein Wert basiert nicht auf Gold, aber worauf basiert er dann? und hier kommen wir zum Wesentlichen, also musst du noch etwas aufmerksam sein, Geld ist schon seit langer Zeit virtuell, heutzutage ist die Kryptowährung der beste Beweis dafür, es ist nicht schwer vorherzusagen, dass Kryptowährungen für unsere Gesellschaften von großer Bedeutung sein werden, heute wissen wir das bereits, also ist das keine abwegige Behauptung, die wirkliche Frage ist, wie man es gut macht, es gibt Methoden, es anzupacken, und diese müssen beachtet werden, viele Leute denken, Begeisterung sei genug, aber nein, es ist eine Menge Know-how erforderlich, und dieses Know-how erfordert einen breiteren Blickwinkel, denn man muss wissen, was Krypto ist und was nicht, wofür man es verwenden kann und wofür nicht; es gibt welche, wie Musk, und wir in der Ukraine haben ihm für vieles zu danken, manche der Dinge, die er unterstützt, sind Träume, Visionen, das dürfen wir nicht vergessen, diesen höheren Standpunkt, denn um die Kryptowelt zu verstehen, braucht man einen scharfsinnigen Überblick, in Ordnung, aber man braucht auch eine Vision, man wird gut daran tun, wenn man mit dieser Vision beginnt, dann wird man in der Lage sein, Krypto für das zu verwenden, wofür es gedacht ist; jetzt kannst du einwenden, was ist diese Kryptowährung? Das Ganze ist Betrug, man kann es nicht fassen, es existiert nicht, wie können wir sagen, dass es sie gibt? Darauf würde ich antworten, dass es eine Technologie für die Welt der Kryptowährungen gibt, nämlich die Blockchain, eine der größten Erfindungen der jüngeren Geschichte. Okay, wir verstehen sie nicht, aber wir müssen sie auch nicht verstehen, denn man muss sie nicht verstehen, um sie zu nutzen. Genauso wie man beim Fernsehen nicht wissen muss, dass ein Lichtpunkt im Bruchteil einer Sekunde über den Bildschirm rast. Im Bereich der Kryptowährungen muss man also nicht unbedingt die zugrunde liegende Technologie oder den Satz von Technologien verstehen, man muss sie nur nutzen. Meiner Ansicht nach – und hier hat er auf sich selbst hingewiesen – geht es bei Kryptowährungen um Innovation. Kryptowährungen zusammen mit der Blockchain sind ein Betriebsmodell, das bestimmte Eigenschaften ermöglicht, wie Authentizität, Einheitlichkeit, Identifizierbarkeit und eine enorme Flexibilität oder, wenn man so will, Extraterritorialität. Unser derzeitiges Geld hat physische Beschränkungen, und wenn zusätzliche und unterschiedliche Arten von Kryptowährungen entstehen und sich weiter verbreiten, werden sie durch eine Nützlichkeit gestärkt, die die Gesellschaft durchdringt, wodurch Kryptowährungen noch zuverlässiger und zunehmend in die globale Gesellschaft eingebettet werden. Dann wird es glasklar, dass der Schöpfer und Gründer dieser alles verflechtenden Entität die Kryptowährung in einen gesellschaftlichen Wert verwandelt hat – hier musste er erneut innehalten, wegen neuer Geräusche, lautere Explosionen jenseits des Grabens, in dem sie lagen, sie feuerten nun aus drei Grad-Raketen, das waren insgesamt 120 Raketen, gefolgt von einer plötzlichen Stille, einer Pause, in der man irgendwo auf den Feldern das Kreischen von Vögeln hören konnte, und er wartete einen Moment, um zu sehen, was passieren würde, nichts passierte, nur die Vögel, also fuhr er fort – ob es uns gefällt oder nicht, wir fliegen zum Mars, ob es uns gefällt oder nicht, wir werden den Mars kolonisieren, weil wir es müssen, nicht um die Erde zu retten, der Erde wird es gut gehen, die Menschen müssen sich selbst retten, denn hier sitzen wir in einer Falle, und wir müssen uns befreien, also steuern wir auf den Mars zu, ja, mein Freund, und hier müssen zwei Dinge klar verstanden werden, das erste ist, dass Geschäft und Vertrauen Hand in Hand gehen, siehst du, das ist der Trend, also sei der Erste, sei der Gewinner, wenn die physische und die virtuelle Welt sich miteinander verbunden, denn ich habe meine Kryptowährungen in eine Vision investiert. Für eine solche Investition braucht man Geld, also lass es Kryptogeld sein, es macht keinen Unterschied, wie man es nennt, Geld ist eine Frage des Glaubens, eine Entscheidung. Glaube ich daran, vertraue ich ihm? Das wird deutlich, wenn wir die Geburt und die Kindheit der Kryptowelt in unserer Zeit miterleben. Es wird verschiedene Zahlungsmittel geben, eines davon ist das heutige Geld, das andere Kryptogeld, das dritte werden Aktionen sein, und diese drei werden weiterhin miteinander verschmelzen. Das ist heute schon so, wie das Beispiel der Kryptowährungen zeigt, besonders hier in unserem Land. In der Ukraine ist die Popularität von Kryptowährungen die fünfthöchste der Welt. Der Grund dafür ist, dass wir Ukrainer klar erkennen, dass Kapital und Wert in Zukunft aktionsbasiert sein werden. Das Modell dafür existiert bereits in der Welt der Kryptowährungen. Wenn du ein Zahlungsmittel konstruierst, das Grenzen überwindet, dann wirst du bei der Verknüpfung der physischen und virtuellen Welt die Hauptbank sein. Möchtest du nicht Partner einer Hauptbank sein? Natürlich willst du das, denn auch du willst die Plattform sein. Wenn du ein Zahlungsmittel schaffst, das die Leute für gültig halten, dann werden sie dieses neue Zahlungsmittel auch nutzen. Geld ist Glaubenssache, aber die eigentliche Frage ist, wie viele daran glauben oder vielmehr an die Vision, für die das Geld benötigt wird. Denn wenn genug Menschen daran glauben, wird das Projekt verwirklicht. Denn es gibt keinen Traum, der angesichts technologischer Kreativität nicht verwirklicht werden kann. Siehst du, der Traum wird Wirklichkeit. Das ist keine leere Phrase mehr. So war es noch nie, aber von nun an ist es so und wird es auch bleiben –
Wir werden abkratzen.
Freue mich, von den anderen Pritschen Lebenszeichen zu hören, bemerkte er ironisch und fuhr fort: „Lass uns zum Anfang zurückkehren und noch einmal die Frage stellen, was Geld ist, und antworten, dass Geld ein Tauschmittel ist. Die Menschheit hat meist in kleinen Gemeinschaften gelebt, und irgendwann, irgendwo, beschlossen die Menschen, eine bestimmte große runde Steinplatte Geld zu nennen, die übrigens … wir können das genauso gut zugeben, nur unter uns in dieser schmutzigen, verrotteten, stinkenden Höhle, dass es tatsächlich sehr viel mit Kryptowährung zu tun hatte, denn diese Platte wurde nie wirklich bewegt, was zählt, ist, dass wir uns auf ein Tauschmittel einigen, das von jedem Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert wird, es ist nicht schwer, ein neues Geldinstrument einzuführen, wenn die Gemeinschaft es akzeptiert und daran glaubt, im Laufe der Geschichte sind sehr viele lokale Währungen entstanden, die Frage ist immer, was eine Geldeinheit wert wäre, ein Schaf? oder ein Scheffel Weizen? und hier können wir zu Krypto springen und feststellen, dass die Gültigkeit dieser Währung, welche Form sie auch annimmt, größtenteils von ihr selbst verliehen wird, sie bietet eine Möglichkeit, du kannst mich für Geld benutzen, okay, aber ab wann beginnt man, es zu benutzen? und die Antwort ist: Wenn die Währung, die in einer virtuellen Sphäre existiert, in die physische Welt einzudringen beginnt, wenn die ersten Bitcoin-Automaten auftauchen, wenn ein bestimmtes Geschäft beginnt, Zahlungen in Kryptowährung zu akzeptieren, dann wird das Virtuelle „real“ und es beginnt ein irreversibler Prozess, der uns zu dieser zweiten Ebene bringt, wo wir in vielen Fällen Bitcoin, Ether oder eine noch sicherere Variante wie Stablecoin verwenden, ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst sind. Zum Beispiel gehe ich in ein Reisebüro und buche dank der Blockchain-Technologie einen Urlaub und trinke dann irgendwo eine Tasse Kaffee, bevor ich nach Hause gehe. Mit anderen Worten: Viele Ledger-Transaktionen erfolgen bereits über Krypto statt über echtes Geld. Virtuelle Währungen sind bereits viel weiter verbreitet, als die Leute glauben, aber irgendwann werden sie es bemerken, sie werden es bemerken, und hey, ich habe gerade etwas im Austausch für diesen Ether, diesen Bitcoin oder Stablecoin erhalten, ich habe etwas getan, mit anderen Worten, ich habe es als Tauschmittel akzeptiert, und andere akzeptieren es auch, und dann akzeptiert es jeder, und von da an wird sich die Welt der Kryptowährungen beruhigen und stabilisieren, heutzutage ist der Wechselkurs aufgrund von Spekulanten und Betrügern oft noch eine Achterbahnfahrt, und die Preise schwanken, sodass man möglicherweise eine ganze Weile warten muss, bis ein abgestürzter Wechselkurs wieder dem Kaufpreis entspricht, aber wir müssen erkennen, dass dies bereits geschieht, wir haben dieses Geld, virtuelles Geld, all diese kostenlosen Apps auf unseren Smartphones sind virtuell funktionierendes Geld, da wir sie kostenlos nutzen, aber wir bezahlen, indem wir Dinge wie erwartet tun, ich verkaufe meine Aufmerksamkeit und kann im Gegenzug den Dienst kostenlos nutzen, damals in der Sowjetzeit hatten die Kommunisten etwas Ähnliches beabsichtigt, als sie sagten, das Geld würde verschwinden, jeder würde entsprechend seinen Bedürfnissen handeln, arbeiten und Güter in Anspruch nehmen, aber sie scheiterten, weil es keine universelle Währung gab, um Äquivalenzen zwischen verschiedenen Verhaltensweisen herzustellen, heute jedoch haben wir diese Äquivalenz und werden sie auch weiterhin haben, darauf kannst du wetten, und jetzt ist es Zeit, zusammenzufassen – hier erhob er sich von seinen Pritschen und hoffte, dass sein Kamerad noch wach war, denn er hatte schon seit einiger Zeit kein Atmen mehr neben sich gehört – du kannst jetzt nicht schlafen gehen, sagte er, nein, noch nicht, denn jetzt kommt das Beste, pass jetzt auf – aber es kam keine Antwort, in der Höhle war es still, und auch draußen schien es über ihm stiller geworden zu sein, die GRADs machten offenbar eine Pause, und ein frischer Zug traf aus Popasna ein, nur vereinzeltes Mörserfeuer war jetzt zu hören, was wie Stille war, also musste er seinen Kameraden daran erinnern, kein Schlafen, jetzt kein Schlafen, jeden Moment werden sie hier sein und uns abholen, vielleicht kann ich vorher fertig werden, sagte er nervös und behielt seinen Kameraden mit einem guten Auge im Auge, darf ich fortfahren? Ist das ein Ja? zumindest nicken oder blinzeln, okay, egal, ich mache trotzdem weiter, selbst halb blind kann ich nicht anders, als zu wiederholen, und Wiederholung ist meiner Meinung nach gleichbedeutend mit Wissen, also, wie dem auch sei, hier kommt die Zusammenfassung, dies ist ein geschlossenes System, wir sind zu viele, und eine große Anzahl laufender Prozesse verstärken sich gegenseitig, und sie weisen alle in die gleiche Richtung, wir müssen immer schneller handeln, und wenn wir handeln, müssen wir an mehrere Menschen gleichzeitig denken, deshalb perfektionieren wir die KI, um blitzschnell mit mehreren Menschen gleichzeitig Kontakt aufnehmen zu können, unser Leben hat sich grundlegend verändert, wir stehen am Tor zu einer verwirrenden, unbekannten und doch berechenbaren Welt, man geht nicht mehr acht Stunden zur Arbeit, sondern arbeitet eher ein paar Minuten in der U-Bahn, während man eine geschäftliche E-Mail beantwortet, dann kommt man nach Hause, spielt ein Spiel, verdient etwas Geld, und hier ist eine Frage: Hast du gespielt oder Geld verdient? die beiden haben eine Art zu konvergieren, Hunderte von Übergängen sind gleichzeitig in Bewegung und verstärken sich gegenseitig, und jetzt haben wir diese Smart Contracts, die einem Arbeit verschaffen, ja, es könnte drei Minuten dauern, doch heute kann das Aufsetzen eines Vertrags noch vier Tage dauern, aber Blockchain ist bereits verfügbar, irgendwann wird alles vollständig automatisiert sein, also sieht es so aus, als bräuchten wir keine Anwälte mehr, beide Parteien werden alles im Voraus wissen, in einem Bruchteil einer Sekunde werde ich dich für einen Job einstellen können, alles wird von Blockchain und KI erledigt, derzeit haben wir noch Validatoren, sagen wir, du willst deine Wohnung verkaufen und ich möchte sie kaufen, dann muss ein Mittelsmann, ein Anwalt, in den Prozess eingreifen, was den ganzen Prozess verlangsamt, und Geld muss für die Arbeit dieses Validators ausgegeben werden, und jetzt wird das nicht mehr so sein, der Validator wird in die Kryptowährung integriert und authentifiziert mittels Blockchain, dass du tatsächlich der bist, der du vorgibst zu sein, beide Parteien werden hundertprozentig sicher sein, dass wir alles wissen, was wir übereinander wissen müssen, um eine Entscheidung zu treffen, und der Smart Contract ist abgeschlossen, Punkt, nein Man muss kein Mitleid mit den Anwälten haben, denn sie werden weiterhin die Blockchain nutzen und an ihr Geld kommen. Man muss kein Mitleid mit den Banken haben, denn sie werden ihre eigenen Kryptowährungen einführen, und man könnte sagen: „Mensch, diese Bank hat mir 100.000 Hrywnja vorgestreckt, aber ist das wirklich 100.000 Hrywnja wert?!“ auf meinem Monitor steht, dass ich einhunderttausend Griwna auf meinem Konto habe, also werde ich diese Bank nie, NIEMALS verlassen, denn ihr Geld ist mein Geld, und das gleiche gilt gesellschaftsweit, und weist damit weit über Währungen hinaus, es wird systemisch werden, aber damit das alles passiert, müssen unsere Überwachungsmethoden furchtbar ausgefeilt werden, und das passiert bereits, derzeit hauptsächlich in Diktaturen, aber irgendwann wird es einen globalen Bedarf an Überwachung geben, denn um vollständiges Vertrauen aufzubauen, ist eine vollständige Verfügbarkeit von Informationen über jede Person erforderlich, also weltweit, denn nur dann können wir sicher sein, dass die andere Partei Ihrer Transaktion wirklich die ist, die sie vorgibt zu sein, und wir können den von ihr bereitgestellten Daten vertrauen, ja, das mag ein bisschen beängstigend klingen, aber so wird es sein, es ist unvermeidlich, es gibt kein Zurück, Blockchain bietet sofortige Überprüfbarkeit, ohne Menschen, oder, wie wir sagen, Torwächter, es wird unzuverlässige Typen aus der Gesellschaft ausschließen und zuverlässige Typen behalten, und irgendwann werden diejenigen, die diese Sicherheitsanforderungen nicht erfüllen können, nicht in der Lage sein, ein normales Leben zu führen, man muss, notwendigerweise, zuverlässig sein, unbedingt gut, sonst ist man nicht in die Gesellschaft eingebunden, na, was sagst du dazu? natürlich kannst du einwenden, dass das alles nicht ohne totale Überwachung geht, und da hast du vollkommen recht, und dass das Entblößung, totale Wehrlosigkeit bedeutet, das stimmt, aber es geht nicht anders, die Wasserknappheit wird katastrophal, der Wasserverbrauch muss eingeschränkt werden, so sei es, aber dafür muss ich wissen, wie viel Wasser du zum Trinken, für die Toilettenspülung, zum Duschen und für die Gartenbewässerung verbrauchst, und dich dann entsprechend belohnen und bestrafen, d.h. jeder muss ständig überwacht werden, aber diesbezüglich, sagte er mit gesenkter Stimme und schlängelte sich wieder zu seinem Begleiter, tastete nach seiner Hand, sie war kalt, und er ließ nicht locker, sondern fuhr fort, bevor das alles zu beängstigend klingt, es gibt eine wichtige Sache, die das alles machbar und erträglich macht, und das ist Bewusstsein und freiwilliges Einverständnis, wir können es nicht so weiterlaufen lassen, wie es bisher gelaufen ist, jeder muss am globalen Leben teilnehmen, jeder, ohne Ausnahme, muss sich bewusst sein, was er tut, und zu welchem Preis, und warum, und wozu es gut ist, oder ob es überhaupt gut ist, was wir beenden müssen, ist die Art und Weise, wie wir heute noch dummerweise zulassen, dass andere ohne unsere Zustimmung für uns handeln, es gibt keinen anderen Weg, es gibt ihn einfach nicht, wer die Technologie besitzt, wird herrschen, wird der Herr sein – aber davor hatte er keine Angst, und er umklammerte weiterhin diese eiskalte Hand – denn niemand wird sich daran stören, sie werden einfach ihr bequemes Leben genießen, unter Überwachung, das versteht sich von selbst, von dort ist es nur ein Schritt in die virtuelle Welt, denn alles, was ich hier erklärt habe, führt in die virtuelle Welt, wir benutzen das Internet seit fünfzehn Jahren Wenn vor fünfzehn Jahren jemand gesagt hätte, dass man in fünfzehn Jahren in einem Spiel Geld für ein Lichtschwert bezahlen würde, wohlgemerkt ein Lichtschwert, das man nie greifen kann, weil es im physischen Raum nicht existiert, dann hätte dieser Jemand gesagt: „Auf keinen Fall, heute ist das der größte Markt“, oder dass wir Geld für Schuhe bezahlen würden, die wir nie an den Füßen tragen würden, noch einmal: „Auf keinen Fall“, aber wann hast du deine Fotos das letzte Mal in der Hand gehalten? Du musst sie nicht halten, die emotionale Wirkung ist dieselbe, wenn du sie auf deinem Telefon oder Bildschirm betrachtest, wir übertragen immer mehr Dinge in virtuelle Welten, komm, blinzel mal“, und er drückte diese eiskalte, blutige Hand. Wir dürfen NFTs nicht vergessen, die Welt der nicht fungiblen Token, die uns in eine absolut revolutionäre Zukunft projizieren würden, wenn es nicht die Tatsache wäre, dass wir, geben wir es zu, nicht von der Zukunft, sondern von der Gegenwart sprechen, da NFTs bereits existieren, insbesondere in der Welt der Kunst, weil diese NFTs wiederum mittels Blockchain-Technologie, einzigartige Token für digital erstellte Werke, wodurch diese Kreationen, die nur digital existieren, marktfähig werden, sodass ihre Herkunft und Einzigartigkeit hundertprozentig authentisch garantiert sind, und ich gebe zu, diese Entwicklung klingt wirklich verrückt, tatsächlich könnte sie sich als praktikabel erweisen oder auch nicht, wir experimentieren mit einer enormen Anzahl neuer Dinge, einige werden überleben, andere nicht, und während die Industrielle Revolution zu einem verschwenderischen Lebensstil führte, wird die Digitale Revolution Verschwendung verhindern, indem sie sie bestraft, wir werden von immer mehr Maschinen umgeben sein, und möglicherweise werden wir mit mehr Maschinen als mit lebenden Menschen kommunizieren, sodass die virtuelle Sphäre in unserem Leben eine weitaus bedeutendere Rolle spielen wird, und außerdem möchten wir sehr gerne unsterblich sein, und dies wird möglich sein, wenn wir lernen, unsere Persönlichkeiten zu digitalisieren und hochzuladen, und theoretisch ist dies bereits möglich, wir werden in der Lage sein, unsere Körper auszutauschen und unsere Gedanken herunterzuladen, wir werden in der Lage sein, jedes Körperteil zu ersetzen, das sind bloße Details, was am meisten zählt, und er konnte dies nur wiederholen, ist die Utopie selbst, denn Eine Utopie bedeutet eine bestimmte Richtung, die unmöglich erscheint, und eine Million Utopien könnten scheitern, aber die millionste und erste wird gelingen, es ist der Bau einer Kathedrale, ja, und er hoffte inständig, dass das, was er sagte, kraftvoll genug war, um seinen Begleiter vor dem Einschlafen zu bewahren: „Wach auf, Soldat, ich höre einen T-64, sie kommen, um uns zu holen, und wenn ich durchhalten kann, kannst du das auch. Hör dir nur das Letzte an, was ich zu sagen habe: Du darfst niemals aufgeben, denn das Leben wird großartig sein. Blinzel mir nur kurz, bitte blinzel mir nur einmal kurz zu.
Dass du mich hörst.“
Das Absurde, der Selbstmord und der glückliche bewusste Mensch von Albert Camus
aus “Der Mythos des Sisyphos”
Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien habe – kommt erst später. Das sind Spielereien; zunächst heißt es Antwort geben. Und wenn es wahr ist, daß – nach Nietzsche – ein Philosoph, der ernst genommen werden will, mit gutem Beispiel vorangehen müsse, dann begreift man die Wichtigkeit dieser Antwort, da ihr dann die endgültige Tat folgen muß. Für das Herz sind das unmittelbare Gewißheiten, man muß sie aber gründlich untersuchen, um sie dem Geiste deutlich zu machen.
Wenn ich mich frage, weswegen diese Frage dringlicher als irgendeine andere ist, dann antworte ich: der Handlungen wegen, zu denen sie verpflichtet. Ich kenne niemanden, der für den ontologischen Beweis gestorben wäre. Galilei, der eine schwerwiegende wissenschaftliche Wahrheit besaß, leugnete sie mit der größten Leichtigkeit ab, als sie sein Leben gefährdete. In gewissem Sinne tat er recht daran. Diese Wahrheit war den Scheiterhaufen nicht wert. Ob die Erde sich um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde – das ist im Grunde gleichgültig. Um es genau zu sagen: das ist eine nichtige Frage. Dagegen sehe ich viele Leute sterben, weil sie das Leben nicht für lebenswert halten. Andere wieder lassen sich paradoxerweise, für die Ideen oder Illusionen umbringen, die ihnen einen Grund zum Leben bedeuten (was man einen Grund zum Leben nennt, das ist gleichzeitig ein ausgezeichneter Grund zum Sterben).
Also schließe ich, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens die dringlichste aller Fragen ist. Wie sie beantworten? Über alle wesentlichen Probleme (darunter verstehe ich Probleme, die möglicherweise das Leben kosten, oder solche, die den Lebenswillen steigern) gibt es wahrscheinlich nur zwei Denkweisen: die von Lapalisse und die von Don Quijote. Nur das Gleichgewicht von Evidenz und Schwärmerei kann uns gleichzeitig Erregung und Klarheit verschaffen. Bei einem so bescheidenen und zugleich derart mit Pathos belasteten Thema sollte also an die Stelle der gelehrten, klassischen Dialektik eine bescheidenere Geisteshaltung treten, die ebenso vom gesunden Menschenverstand wie vom Mitgefühl ausgeht.
Man hat den Selbstmord immer nur als soziales Phänomen dargestellt. Hier dagegen geht es darum, zunächst nach der Beziehung zwischen individuellem Denken und Selbstmord zu fragen. Eine solche Tat bereitet sich in der Stille des Herzens mit demselben Anspruch vor wie ein bedeutendes Werk. Der Mensch selber weiß nichts davon. Eines Abends schießt er oder geht ins Wasser. Von einem Immobilienhändler, der sich umgebracht hatte, erzählte man mir einmal, er habe vor fünf Jahren seine Tochter verloren und habe sich seitdem sehr verändert, die Geschichte “habe ihn untergraben”.
Einen treffenderen Ausdruck kann man sich nicht wünschen. Wenn man zu denken anfängt, beginnt man untergraben zu werden. Die Gesellschaft hat mit diesen Anfängen nicht viel zu tun. Der Wurm sitzt im Herzen des Menschen. Dort muß er auch gesucht werden. Diesem tödlichen Spiel, das von der Erhellung der Existenz zur Flucht aus dem Leben fährt, muß man nachgehen, und man muß es begreifen.
Ein Selbstmord kann vielerlei Ursachen haben, und im allgemeinen sind die sichtbarsten nicht eben die wirksamsten gewesen. Ein Selbstmord wird selten aus Überlegung begangen (obwohl diese Hypothese nicht ausgeschlossen ist). Meist löst etwas Unkontrollierbares die Krise aus. Die Zeitungen sprechen dann oft von “heimlichem Kummer” oder von “unheilbarer Krankheit” . Diese Erklärungen haben ihre Geltung. Man müßte aber wissen, ob nicht am selben Tage ein Freund mit dem Verzweifelten in einem gleichgültigen Ton gesprochen hat. Das ist der Schuldige. Dergleichen kann nämlich Genügen, um allen Ekel und allen latenten Überdruß auszulösen. Wenn es jedoch schmierig ist, den genauen Zeitpunkt, den winzigen Schritt anzugeben, mit dem der Geist sich für den Tod entschieden hat, so ist es leichter, aus der Tat an sich ihre Voraussetzungen zu erschließen.
Sich in bestimmter Absicht, wie im Melodrama, umbringen heißt: ein Geständnis ablegen. Es heißt gestehen, daß man vom Leben überwältigt wird oder das Leben nicht begreift. Wir wollen aber in diesen Analogien nicht zu weit gehen und zur alltäglichen Ausdrucksweise zurückkehren. Es handelt sich einfach um das Geständnis, daß es “nicht lohnt”. Leben ist naturgemäß niemals leicht. Aus vielerlei Gründen, vor allem aus Gewohnheit, tut man fortgesetzt Dinge, die das Dasein verlangt.
Freiwilliges Sterben hat zur Voraussetzung, daß man wenigstens instinktiv das Lächerliche dieser Gewohnheit erkannt hat, das Fehlen jedes tieferen Grundes zum Leben, die Sinnlosigkeit dieser täglichen Betätigung, die Nutzlosigkeit des Leidens. Was für ein unberechenbares Gefühl raubt nun dem Geist den lebensnotwendigen Schlaf? Eine Welt, die sich – wenn auch mit schlechten Gründen – deuten und rechtfertigen läßt, ist immer noch eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Verstoßensein gibt es für ihn kein Entrinnen, weil er der Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtes Land beraubt ist. Dieser Zwiespalt zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Schauspieler und seinem Hintergrund ist eigentlich das Gefühl der Absurdität. Da alle normalen Menschen an Selbstmord gedacht haben, wird es ohne weiteres klar, daß zwischen diesem Gefühl und der Sehnsucht nach dem Nichts eine direkte Beziehung besteht.
Gegenstand dieses Versuchs ist eben dieser Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Selbstmord, die genaue Feststellung, in welchem Maße der Selbstmord für das Absurde eine Lösung ist. Man kann den Grundsatz aufstellen: die Handlungsweise eines aufrichtigen Menschen müsse von dem bestimmt werden, was er für wahr hält. Der Glaube an die Absurdität des Daseins sollte demnach die Richtschnur seines Verhaltens sein. Mit berechtigter Neugier fragt man sich offen und ohne falsches Pathos, ob eine derartige Erkenntnis verlangt, daß man einen unbegreiflichen Zustand so rasch wie möglich aufgebe. Wohlgemerkt: ich spreche hier von Menschen, die fähig sind, mit sich selbst ins reine zu kommen.
Klar formuliert mag dieses Problem ebenso einfach wie unlösbar erscheinen. Aber man vermutet zu Unrecht, daß einfache Fragen ebenso einfache Antworten nach sich ziehen und daß das Evidente nur Evidentes umschließt. Auch wenn man umgekehrt die Frage stellt, ob man sich umbringen soll oder nicht, scheint es a priori nur zwei philosophische Lösungen zu geben: ein Ja und ein Nein. Das wäre jedoch zu schön. Wir müssen von den Menschen ausgehen, die fortgesetzt Fragen stellen und keine Schlüsse ziehen. Ich sage das fast ohne Ironie: es handelt sich um die Mehrzahl. Ebenso sehe ich, daß die Neinsager so handeln, als dächten sie ja.
Wenn ich mir Nietzsches Kriterium zu eigen mache, dann denken sie tatsächlich auf die eine oder andere Weise ja. Bei Selbstmördern dagegen kommt es oft vor, daß sie vom Sinn des Lebens überzeugt waren. Diese Widersprüche sind konstant. Man kann sogar sagen, daß sie immer dort besonders lebendig gewesen sind, wo ganz im Gegenteil Logik höchst begehrenswert gewesen wäre. Es ist ein Gemeinplatz, die philosophischen Theorien mit dem Verhalten derer zu vergleichen, die sich zu ihnen bekennen. Es muß aber betont werden, daß keiner von jenen Denkern, die dem Leben jeden Sinn absprachen, seine Logik so weit getrieben hat, das Leben selber auszuschlagen – außer Kirilow, der der Literaturangehört, außer Perigrino, der der Legende entstammt, und außer Jules Lequier, der das Geschöpf einer Hypothese ist. (…)
Muß nun angesichts dieser Widersprüche und Unklarheiten angenommen werden, daß zwischen der Meinung, die man vom Leben haben kann, und dem Schritt, mit dem man es verläßt, keinerlei Beziehung herrscht? Wir wollen hier nichts übertreiben. In der Bindung des Menschen an sein Leben gibt es etwas, das stärker ist als alles Elend der Welt. Die Entscheidung des Körpers gilt ebensoviel wie eine geistige Entscheidung, und der Körper scheut die Vernichtung. Wir gewöhnen uns ans Leben, ehe wir uns ans Denken gewöhnen.
Bei dem Wettlauf, der uns dem Tode täglich etwas näher bringt, hat der Körper unwiderruflich den Vorsprung. Das Wesentliche dieses Widerspruchs liegt letztlich im “Ausweichen” , wie ich es nennen möchte; es ist nämlich mehr und gleichzeitig weniger als die “Zerstreuung” , von der Pascal spricht. Ausweichen – das ewige Spiel. Das typische Ausweichen, das tödliche Ausweichen, das dritte Thema dieses Versuchs – das ist die Hoffnung. Die Hoffnung auf ein anderes Leben, das man sich “verdienen” muß, oder die Betrügerei derer, die nicht für das Leben an sich leben, sondern für irgendeine große Idee, die über das Leben hinausreicht, es erhöht, ihm einen Sinn gibt und es verrät. (…)
Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst, wieder hinunterrollte. Sie hatten mit einiger Berechtigung bedacht, daß es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit.
Wenn man Homer Glauben schenken will, war Sisyphos der weiseste und klügste unter den Sterblichen. Nach einer
anderen Überlieferung jedoch betrieb er das Gewerbe eines Straßenräubers. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Über die Gründe, weshalb ihm in der Unterwelt das Dasein eines unnützen Arbeiters beschert wurde, gehen die Meinungen auseinander. Vor allem wirft man ihm eine gewisse Leichtfertigkeit im Umgang mit den Göttern vor. Er gab ihre Geheimnisse preis. Egina, die Tochter des Asopos, wurde von Jupiter entführt. Der Vater wunderte sich über ihr Verschwinden und beklagte sich darüber bei Sisyphos. Der wußte von der Entführung und wollte sie Asopos unter der Bedingung verraten, daß er der Burg von Korinth Wasser verschaffte. Den himmlischen Blitzen zog er den Segen des Wassers vor. Dafür wurde er in der Unterwelt bestraft. Homer erzählt uns auch, Sisyphos habe den Tod in Ketten gelegt. Pluto konnte den Anblick seines stillen, verödeten Reiches nicht ertragen. Er verständigte den Kriegsgott, der den Tod aus den Händen seines Überwinders befreite.
Außerdem heißt es, Sisyphos wollte, als er zum Sterben kam, törichterweise die Liebe seiner Frau erproben. Er befahl ihr, seinen Leichnam unbestattet auf den Markt zu werfen. Sisyphos kam in die Unterwelt. Dort wurde er von ihrem
Gehorsam, der aller Menschenliebe widersprach, derart aufgebracht, daß er von Pluto die Erlaubnis erwirkte, auf die
Erde zurückzukehren und seine Frau zu züchtigen. Als er aber diese Welt noch einmal geschaut, das Wasser und die Sonne, die warmen Steine und das Meer wieder geschmeckt hatte, wollte er nicht mehr ins Schattenreich zurück. Alle Aufforderungen, Zornausbrüche und Warnungen fruchteten nichts. Er lebte noch viele Jahre am Golf, am leuchtenden Meer, auf der lächelnden Erde und mußte erst von den Göttern festgenommen werden. Merkur packte den Vermessenen beim Kragen, entriß ihn seinen Freunden und brachte ihn gewaltsam in die Unterwelt zurück, in der sein Felsblock schon bereit lag.
Kurz und gut: Sisyphos ist der Held des Absurden. Dank seinen Leidenschaften und dank seiner Qual. Seine Verachtung der Götter, sein Haß gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter aufgewogen, bei der sein ganzes Sein sich abmüht und nichts zustande bringt. Damit werden die Leidenschaften dieser Erde bezahlt. Über Sisyphos in der Unterwelt wird uns nichts weiter berichtet. Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden. So sehen wir nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinaufzuwälzen und mit ihm wieder und wieder einen Abhang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloß legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganz menschliche Selbstsicherheit zweier erdbeschmutzter Hände. Schließlich ist nach dieser langen Anstrengung (gemessen an einem Raum, der keinen Himmel, und an einer Zeit, die keine Tiefe kennt) das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muß. Er geht in die Ebene hinunter.
Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels. Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewußt ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kraft gäbe? Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen der Arbeiter bewußt wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstiegs nach. Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.
Wenn der Abstieg so manchen Tag in den Schmerz führt, er kann doch auch in der Freude enden. Damit wird nicht zuviel behauptet. Ich sehe wieder Sisyphos vor mir, wie er zu seinem Stein zurückkehrt und der Schmerz von neuem beginnt. Wenn die Bilder der Erde zu sehr im Gedächtnis haften, wenn das Glück zu dringend mahnt, dann steht im Herzen des Menschen die Trauer auf: das ist der Sieg des Steins, ist der Stein selber. Die gewaltige Not wird schier unerträglich. Unsere Nächte von Gethsemane sind das. Aber die niederschmetternden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden. So gehorcht Ödipus zunächst unwissentlich dem Schicksal. Erst mit Beginn seines Wissens hebt seine Tragödie an. Gleichzeitig aber erkennt er in seiner Blindheit und Verzweiflung, daß ihn nur noch die kühle Hand eines jungen Mädchens mit der Welt verbindet.
Und nun fällt ein maßloses Wort: “Allen Prüfungen zum Trotz – mein vorgerücktes Alter und die Größe meiner Seele sagen mir, daß alles gut ist.” So formuliert der Ödipus des Sophokles (wie Kirilow bei Dostojewski) den Sieg des Absurden. Antike Weisheit verbindet sich mit modernem Heroismus. Man entdeckt das Absurde nicht, ohne in die Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben. “Was, aus so schmalen Wegen…?” Es gibt aber nur eine Welt. Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Irrtum wäre es, wollte man behaupten, daß das Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringe. Wohl kommt es vor, daß das Gefühl des Absurden dem Glück entspringt. “Ich finde, daß alles gut ist”, sagt Ödipus, und dieses Wort ist heilig. Es wird in dem grausamen und begrenzten Universum des Menschen laut. Es lehrt, daß noch nicht alles erschöpft ist, daß noch nicht alles ausgeschöpft wurde. Es vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der mit dem Unbehagen und mit der Vorliebe für nutzlose Schmerzen in sie eingedrungen war. Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß.
Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen. Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches, Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs – ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.
Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Traum eines lächerlichen Menschen von Fjodor Dostojewski
aus “Tagebuch eines Schriftstellers”
Ich bin ein lächerlicher Mensch. Man nennt mich jetzt einen Verrückten. Das würde eine Rangerhöhung sein, wenn ich nicht für die Leute immer noch ebenso lächerlich bliebe wie vorher. Aber jetzt ärgere ich mich nicht mehr darüber; jetzt sind sie mir alle lieb, und sogar wenn sie über mich lachen – und dann sind sie mir eigentümlicherweise sogar besonders lieb. Ich würde selbst mit ihnen lachen, nicht sowohl über mich als aus Liebe zu ihnen, wenn mir nicht bei ihrem Anblick so traurig ums Herz würde. Traurig deswegen, weil sie die Wahrheit nicht kennen; ich aber kenne die Wahrheit. Ach, was für ein drückendes Gefühl ist es, der einzige zu sein, der die Wahrheit kennt! Aber sie haben dafür kein Verständnis. Nein, sie haben dafür kein Verständnis.
Früher grämte ich mich sehr darüber, daß ich ein lächerlicher Mensch zu sein schien. Oder vielmehr nicht schien, sondern war. Ich bin immer lächerlich gewesen und weiß das; vielleicht war ich es schon von meiner Geburt an. Vielleicht wußte ich schon als Siebenjähriger, daß ich lächerlich war. Dann besuchte ich die Schule, dann die Universität, und merkwürdig: je mehr ich lernte, um so mehr erkannte ich, daß ich lächerlich bin. So daß schließlich mein ganzes Universitätsstudium für mich gewissermaßen nur die Bedeutung hatte, mir in dem Maße, wie ich mich in dasselbe vertiefte, zu beweisen und klarzumachen, daß ich lächerlich bin.
Ähnlich wie in der Wissenschaft ging es mir auch im Leben. Mit jedem Jahre wuchs und befestigte sich in mir eben dieses selbe Bewußtsein meiner lächerlichen Erscheinung in jeder Beziehung. Von allen und immer wurde über mich gelacht. Aber keiner von ihnen wußte oder ahnte, daß, wenn ein Mensch auf der Welt mehr als alle andern meine Lächerlichkeit erkannte, dieser Mensch ich selbst war, und eben dies war für mich das Kränkendste, daß sie das nicht wußten. Aber daran war ich selbst schuld: ich war immer so stolz, daß ich das nie und um keinen Preis jemandem gestehen wollte. Dieser Stolz wuchs in mir mit den Jahren, und wenn es sich so gefügt hätte, daß ich mir erlaubt hätte, irgendwem, mochte es sein wer es wollte, zu gestehen, daß ich lächerlich sei, so würde ich, wie ich glaube, sogleich, noch an demselben Abend mir aus meinem Revolver eine Kugel vor den Kopf geschossen haben.
O, wie litt ich in meiner Knabenzeit unter der Furcht, ich könnte mich nicht beherrschen und würde es auf einmal meinen Kameraden selbst gestehen! Aber seit ich anfing, ein junger Mann zu werden, änderte sich das: obgleich ich mit jedem Jahre meine schreckliche Eigenschaft immer deutlicher erkannte, so wurde ich doch aus irgendwelchem Grunde etwas ruhiger. Ich sage: aus irgendwelchem Grunde, weil ich bis auf den heutigen Tag nicht imstande bin anzugeben, woher es eigentlich kam. Vielleicht daher, daß in meiner Seele ein furchtbarer Gram über einen Umstand heranwuchs, der unendlich viel höher war als mein ganzes Ich: es war das nämlich die Überzeugung, die sich bei mir herausgebildet hatte, daß auf der Welt überall alles ganz egal ist.
Ich hatte dies schon vor sehr langer Zeit geahnt; aber die volle Überzeugung stellte sich im letzten Jahre ganz plötzlich ein. Ich fühlte auf einmal, daß es mir ganz egal sein würde, ob die Welt existierte oder es nirgends etwas gäbe. Ich begann mit meinem ganzen Wesen zu merken und zu fühlen, daß es um mich herum nichts gab. Anfangs schien es mir immer, daß es wenigstens vorher vieles gegeben habe; aber dann erriet ich, daß es vorher ebenfalls nichts gegeben habe, sondern mir das nur aus irgendwelchem Grunde so vorgekommen sei. Allmählich gelangte ich zu der Überzeugung, daß es auch niemals etwas geben werde. Damals hörte ich auf einmal auf, mich über die Menschen zu ärgern, und begann, sie fast gar nicht mehr zu bemerken.
Wirklich, das äußerte sich sogar in den geringsten Kleinigkeiten; es passierte zum Beispiel nicht selten, daß ich, wenn ich auf der Straße ging, mit den Leuten zusammenstieß. Und nicht etwa infolge tiefen Nachdenkens: worüber hätte ich denn auch nachdenken sollen? Ich hatte damals ganz aufgehört nachzudenken: mir war alles egal. Und wenn ich wenigstens schwierige Fragen zu lösen versucht hätte; aber ich gab mich mit keiner solchen ab, und doch: wie viele gab es ihrer? Aber mir war alles egal, und die schwierigen Fragen entfernten sich sämtlich aus meinem Gesichtskreise.
Und siehe da, nach diesen Vorgängen da erkannte ich die Wahrheit. Ich erkannte die Wahrheit im vorigen November, genau am dritten November, und seit der Zeit erinnere ich mich an jeden Augenblick meines Lebens. Es war an einem trüben, ganz trüben Abend; er war so trübe, wie er überhaupt nur sein kann. Ich kehrte damals zwischen zehn und elf Uhr abends nach Hause zurück, und wie ich mich erinnere, ging mir gerade der Gedanke durch den Kopf, daß es gar nicht trüber sein könne. Selbst in rein physischer Hinsicht. Es hatte den ganzen Tag über geregnet, und das war ein ganz kalter, häßlicher Regen gewesen, sogar, wie ich mich erinnere, ein grimmiger Regen mit einer ausgesprochenen Feindseligkeit gegen die Menschen; aber da hörte er nach zehn Uhr auf einmal auf, und es begann eine furchtbare Feuchtigkeit, feuchter und kälter als zur Zeit des Regens, und von allen Dingen ging eine Art Dampf aus, von jedem Steine auf der Straße und aus jeder Quergasse, wenn man von der Straße aus ganz tief, so weit wie nur möglich, in sie hineinblickte.
Es kam mir auf einmal der Gedanke, daß, wenn überall das Gas ausginge, das angenehmer sein würde; mit der Gasbeleuchtung fühle sich das Herz nur noch trauriger, weil diese das alles sichtbar mache. Ich hatte an diesem Tage fast nichts zu Mittag gegessen und hatte vom Beginn des Abends an bei einem Ingenieur gesessen, und bei ihm waren auch noch zwei Freunde gewesen. Ich hatte immerzu geschwiegen und war ihnen wohl recht langweilig vorgekommen. Sie redeten über irgendeinen strittigen Gegenstand und wurden dabei auf einmal sogar hitzig. Aber eigentlich war ihnen die Sache ganz egal, das sah ich, und daß sie hitzig wurden, war nur so äußerlich. Ich sprach ihnen das denn auch ganz unvermittelt aus: »Meine Herren,« sagte ich, »die Sache ist Ihnen ja doch ganz egal.« Sie fühlten sich nicht beleidigt, sondern lachten alle über mich. Das kam daher, daß ich es ohne jeden Vorwurf gesagt hatte, einfach weil es mir selbst ganz egal war. Sie sahen nun ein, daß es mir ganz egal war, und wurden ganz vergnügt.
Als ich auf der Straße an das Gas dachte, blickte ich zum Himmel hinauf. Der Himmel war furchtbar dunkel; aber man konnte deutlich zerrissene Wolken unterscheiden und zwischen ihnen abgrundtiefe schwarze Flecke. Auf einmal bemerkte ich in einem dieser Flecke ein Sternchen und begann aufmerksam nach ihm hinzusehen. Das tat ich deshalb, weil dieses Sternchen mir einen Gedanken eingab: ich beschloß, mir in dieser Nacht das Leben zu nehmen. Ich hatte das schon zwei Monate vorher fest beschlossen, mir trotz meiner Armut einen schönen Revolver gekauft und ihn gleich an jenem Tage geladen. Aber nun waren schon zwei Monate vergangen, und er lag immer noch im Kasten; aber alles war mir dermaßen egal, daß ich mir schließlich vornahm, einen Augenblick abzuwarten, wo mir nicht alles so egal sein würde – warum ich so verfuhr, das weiß ich nicht. Und auf diese Weise hatte ich diese zwei Monate hindurch jede Nacht, wenn ich nach Hause zurückkehrte, gedacht, daß ich mich erschießen würde. Ich wartete, immer auf den betreffenden Augenblick. Und da gab mir nun dieses Sternchen den Gedanken ein, und ich beschloß, daß es unbedingt in dieser Nacht geschehen solle. Aber warum das Sternchen mir den Gedanken eingab, das weiß ich nicht.
Und siehe da, als ich zum Himmel aufblickte, da faßte mich plötzlich dieses kleine Mädchen an den Ellbogen. Die Straße war schon leer und fast kein Mensch auf ihr zu sehen. In der Ferne schlief ein Droschkenkutscher auf seinem Gefährt. Das kleine Mädchen war etwa acht Jahre alt; sie hatte keinen Mantel, sondern nur ein dürftiges Kleidchen und ein kleines Tüchelchen und war ganz durchnäßt; namentlich aber bemerkte ich ihre nassen, zerrissenen Schuhe und erinnere mich ihrer auch jetzt. Sie fielen mir ganz besonders in die Augen. Sie begann auf einmal mich am Ellbogen zu zupfen und mich zu rufen. Sie weinte nicht, sondern stieß nur abgerissene Worte hervor, die sie nicht ordentlich aussprechen konnte, da sie am ganzen Leibe in leisem Fieberschauer zitterte. Sie war aus irgendwelchem Grunde in Angst und schrie verzweifelt: »Mein Mamachen! Mein Mamachen!«
Ich wendete mich einen Augenblick nach ihr um, sagte jedoch kein Wort und setzte meinen Weg fort; sie aber lief mir nach und zupfte mich, und in ihrer Stimme lag jener Klang, der bei sehr geängsteten Kindern die höchste Verzweiflung bedeutet. Ich kenne diesen Klang. Obgleich sie die Worte nicht zu Ende sprach, verstand ich doch, daß ihre Mutter irgendwo im Sterben lag oder sich mit ihnen dort irgend etwas anderes Schreckliches zugetragen hatte und sie aus dem Hause gelaufen war, um jemanden zu rufen, irgendwelche Hilfe für ihre Mutter zu finden. Aber ich folgte ihr nicht; im Gegenteil kam mir auf einmal der Gedanke, sie wegzujagen. Zuerst sagte ich ihr, sie solle sich einen Schutzmann suchen. Aber sie faltete auf einmal bittend die Händchen, lief schluchzend und atemlos immer neben mir her und wich nicht von mir. Und da stampfte ich mit den Füßen und schrie sie an. Sie rief nur: »Ach, Herr, ach, Herr! …« aber plötzlich verließ sie mich und rannte, so schnell sie nur konnte, über die Straße hinüber; dort war ein anderer Passant sichtbar geworden, und sie lief offenbar von mir zu ihm hin.
Ich stieg nach meinem fünften Stock hinauf. Ich wohne bei Mietern, welche möblierte Zimmer vermieten. Ich habe ein ärmliches, kleines Zimmer mit einem halbrunden Dachfenster. Das Meublement: ein mit Wachstuch bezogenes Sofa, ein Tisch, auf dem meine Bücher liegen, zwei Stühle und ein bequemer Lehnstuhl, alt, sehr alt, aber so ein richtiger Großvaterstuhl. Ich setzte mich hin, zündete eine Kerze an und überließ mich meinen Gedanken. Nebenan, in dem Nachbarzimmer, das von dem meinigen nur durch eine dünne Zwischenwand getrennt ist, dauerte das wüste Treiben noch fort. Es war schon seit mehr als zwei Tagen im Gange. Dort wohnte ein pensionierter Hauptmann, und bei ihm war Besuch, etwa sechs Menschen niedrigen Standes; sie tranken Branntwein und spielten mit alten Karten Stoß.
In der vorhergehenden Nacht hatte es Prügelei gegeben, und ich weiß, daß zwei von ihnen sich längere Zeit bei den Haaren gehabt hatten. Die Wirtin wollte sich schon beklagen; aber sie fürchtet sich gewaltig vor dem Hauptmann. Von sonstigen Untermietern ist bei uns nur noch eine kleine, magere Dame von auswärts vorhanden, mit drei kleinen Kindern, die schon bei uns krank geworden sind. Sie und die Kinder fürchten sich vor dem Hauptmann bis zum Ohnmächtigwerden und zittern und bekreuzen sich die ganze Nacht über; ja, das kleinste Kind hat vor Angst sogar schon einen Krampfanfall bekommen. Dieser Hauptmann hält, wie ich genau weiß, manchmal die Passanten auf dem Newski-Prospekt an und bittet um Almosen. Zum Militärdienst wird er nicht wieder angenommen; aber merkwürdigerweise (und im Hinblick darauf erzähle ich dies eben) hat er in dem ganzen Monat, seit er bei uns wohnt, bei mir keinerlei Gefühl des Ärgers erregt.
Einer näheren Bekanntschaft mit ihm bin ich allerdings gleich von vornherein ausgewichen, und auch ihm selbst wurde die Unterhaltung mit mir schon beim ersten Male langweilig; aber mochten sie auch hinter der Zwischenwand ein noch so großes Geschrei verüben, und mochten ihrer dort auch noch so viele anwesend sein – mir war das immer ganz egal. Ich sitze die ganze Nacht auf und höre diese Menschen wirklich nicht; bis zu dem Grade vergesse ich sie. Ich durchwache ja jede Nacht bis zum Morgengrauen und treibe das so schon ein Jahr lang. Ich sitze die ganze Nacht am Tische im Lehnstuhl und tue nichts. Bücher lese ich nur bei Tage. Ich sitze da und denke nicht einmal etwas; ich sitze eben bloß; allerlei Gedanken gehen mir durch den Kopf, und ich lasse sie nach ihrem Belieben gewähren. Die Kerze brennt in der Nacht vollständig herunter. Ich setzte mich still an den Tisch, nahm den Revolver heraus und legte ihn vor mich hin. Ich erinnere mich, daß, als ich ihn hinlegte, ich mich fragte: »Ja?« und mir mit aller Bestimmtheit antwortete: »Ja.« Das hieß also: ich werde mich erschießen. Ich wußte, daß ich mich in dieser Nacht bestimmt erschießen würde; aber wie lange ich bis dahin noch am Tische sitzen würde, das wußte ich nicht. Und ich hätte mich auch sicherlich erschossen, wäre nicht jenes kleine Mädchen gewesen.
Sehen Sie, wenn mir auch alles egal war, so fühlte ich doch zum Beispiel den Schmerz. Hätte mich jemand geschlagen, so würde ich Schmerz empfunden haben. Ebenso auch in geistiger Hinsicht: hätte sich etwas sehr Trauriges ereignet, so würde ich Mitleid empfunden haben, ebenso wie damals, als mir noch nicht im Leben alles egal war. Ich hatte auch soeben Mitleid empfunden: einem Kinde würde ich doch unbedingt geholfen haben. Warum hatte ich denn aber dem kleinen Mädchen nicht geholfen? Infolge eines Gedankens, der damals in meinem Kopfe entstanden war: als sie mich zupfte und rief, da trat mir auf einmal eine Frage entgegen, und ich konnte sie nicht beantworten.
Es war eine müßige Frage; aber ich ärgerte mich. Ich ärgerte mich infolge der Schlußfolgerung, daß, wenn mein Entschluß feststehe, meinem Leben in dieser Nacht ein Ende zu machen, mir eigentlich alles in der Welt jetzt in höherem Grade als sonst je egal sein müsse. Warum fühlte ich denn nun auf einmal, daß mir nicht alles egal war und ich das kleine Mädchen bemitleidete? Ich erinnere mich, daß ich großes Mitleid mit ihr hatte; ich empfand davon sogar einen seltsamen, zu meiner Lage ganz und gar nicht passenden Schmerz. Ich verstehe es allerdings nicht, diese meine damalige momentane Empfindung besser wiederzugeben; aber die Empfindung dauerte auch zu Hause fort, als ich mich schon an den Tisch gesetzt hatte, und ich war in einer so gereizten Stimmung wie seit lange nicht. Eine Überlegung knüpfte sich an die andere. Es war mir klar, daß, wenn ich ein Mensch und noch keine Null war und mich einstweilen noch nicht in eine Null verwandelt hatte, daß ich dann lebte und folglich imstande war, zu leiden, mich zu ärgern und über meine Handlungen Scham zu empfinden.
Nun gut. Aber wenn ich mich zum Beispiel nach zwei Stunden tötete, was hatte ich dann mit diesem kleinen Mädchen zu tun, und was ging mich dann das Schamgefühl und überhaupt alles in der Welt an? Ich verwandle mich in eine Null, in eine absolute Null. Und mußte denn das Bewußtsein, daß ich alsbald völlig aufhören würde zu existieren und somit auch nichts anderes mehr existieren würde, mußte nicht dieses Bewußtsein die Wirkung haben, das Gefühl des Mitleides mit dem kleinen Mädchen und das Gefühl der Scham über die begangene Gemeinheit aufzuheben? Eben deshalb hatte ich ja mit den Füßen gestampft und das unglückliche Kind mit grimmiger Stimme angeschrien, weil ich gleichsam zu mir sagte: ich empfinde nicht nur kein Mitleid, sondern ich kann sogar jetzt eine unmenschliche Gemeinheit begehen, da in zwei Stunden alles erloschen sein wird.
Können Sie es glauben, daß ich sie darum anschrie? Ich bin jetzt beinah überzeugt davon. Es war mir klar, daß das Leben und die Welt gleichsam von mir abhingen. Ich kann es auch so ausdrücken: die Welt war jetzt einzig und allein für mich gemacht; wenn ich mich erschoß, so hörte auch die Welt wenigstens für mich auf zu existieren. Um gar nicht einmal davon zu reden, daß es vielleicht wirklich nach meinem Tode für niemanden mehr etwas gab und die ganze Welt, sobald mein Bewußtsein erlosch, sogleich wie eine Vision, wie ein bloßes Attribut meines Bewußtseins mit erlosch und verschwand; denn vielleicht waren diese ganze Welt und alle diese Menschen lediglich ich selbst allein. Ich erinnere mich, daß, während ich so dasaß und nachdachte, ich alle diese neuen Fragen, die sich eine nach der andern herandrängten, nach einer andern Seite herumdrehte und etwas ganz Neues ersann.
So zum Beispiel trat mir ein seltsamer Gedanke entgegen: wenn ich früher auf dem Monde oder auf dem Mars gelebt und dort die schmählichste, ehrloseste Tat begangen hätte, die man sich nur vorstellen kann, und dort für diese Tat in einer Weise beschimpft und entehrt worden wäre, wie man es höchstens manchmal in einem ängstlichen Traume zu empfinden und sich vorzustellen vermag, und wenn ich dann, auf die Erde versetzt, die Erinnerung an das auf dem andern Himmelskörper Getane bewahrte und außerdem wüßte, daß ich dorthin niemals und unter keinen Umständen zurückkehren werde: würde mir dann, wenn ich von der Erde aus nach dem Monde hinblickte, alles ganz egal sein oder nicht? Würde ich über meine Tat Scham empfinden oder nicht?
Die Fragen waren müßig und überflüssig, da der Revolver schon vor mir lag und ich mit meinem ganzen Wesen wußte, daß »es« bestimmt geschehen werde; aber sie machten mir den Kopf warm, und ich wurde ganz wütend. Ich hatte die seltsame Vorstellung, ich könne jetzt nicht eher sterben, ehe ich nicht über dies und das ins klare gekommen sei. Kurz, dieses kleine Mädchen rettete mich; denn infolge dieser Fragen verschob ich das Erschießen. Bei dem Hauptmann war unterdessen auch alles ruhig geworden: sie hatten mit dem Kartenspiel aufgehört, schickten sich an, sich schlafen zu legen, brummten aber einstweilen noch und schimpften einander in müder, lässiger Weise. Und da schlief ich plötzlich ein, was mir vorher noch nie begegnet war; ich schlief am Tische, im Lehnstuhl ein.
Ich schlief vollständig ohne es zu merken ein. Die Träume sind bekanntlich sehr seltsame Dinge: manches tritt einem mit erschreckender Deutlichkeit vor Augen, mit kunstvoll feiner Ausarbeitung der Einzelheiten, während man über anderes hinwegspringt, als wenn man es gar nicht bemerkte, zum Beispiel über Raum und Zeit. Die Träume lenkt, glaube ich, nicht der Verstand, sondern der Wille, nicht der Kopf, sondern das Herz; aber doch, was für verschmitzte Dinge hat manchmal mein Verstand im Traume angegeben! Es gehen mitunter mit ihm im Traume ganz unbegreifliche Dinge vor.
Mein Bruder ist zum Beispiel vor fünf Jahren gestorben. Ich sehe ihn mitunter im Traume: er nimmt an meinen Angelegenheiten lebhaften Anteil, wir führen darüber eifrige Gespräche; aber dabei weiß ich und erinnere ich mich während der ganzen Dauer des Traumes vollkommen, daß mein Bruder gestorben und begraben ist. Wie geht es nun zu, daß ich mich nicht darüber wundere, daß er, obwohl er tot ist, sich doch neben mir befindet und eifrig mit mir redet? Warum erhebt mein Verstand dagegen keinerlei Einspruch?
Aber genug davon! Ich komme jetzt zu meinem Traume. Ja, mir träumte damals dieser Traum, am dritten November! Die Leute necken mich jetzt damit, daß es ja nur ein Traum gewesen sei. Aber ist es denn nicht ganz egal, ob es ein Traum war oder nicht, wenn dieser Traum mir die Wahrheit verkündet hat? Denn wenn man einmal die Wahrheit erkannt und gesehen hat, so weiß man ja, daß sie die Wahrheit ist, und daß es keine andere gibt und keine andere geben kann, ob man nun schläft oder wacht. Na, mag es auch nur ein Traum gewesen sein, meinetwegen; aber dieses Leben, das Sie so lobpreisen, wollte ich durch Selbstmord auslöschen, und mein Traum, mein Traum, – o, er hat mir ein neues, großes, erneuertes, starkes Leben offenbart!
Hören Sie nun!
Ich habe gesagt, daß ich einschlief, ohne es zu merken, und ich hatte sogar die Empfindung, als führe ich fort, über dieselben Gegenstände nachzudenken. Auf einmal träumte mir, daß ich den Revolver nahm und ihn im Sitzen gerade auf mein Herz richtete, – auf das Herz, nicht auf den Kopf; und doch hatte ich mir vorher vorgenommen gehabt, mich unbedingt in den Kopf zu schießen, und zwar speziell in die rechte Schläfe. Nachdem ich die Waffe gegen meine Brust gerichtet hatte, wartete ich eine oder zwei Sekunden, und meine Kerze, der Tisch und die Wand begannen auf einmal vor meinen Augen sich zu bewegen und zu schwanken. Ich gab so schnell wie möglich den Schuß ab.
Im Traume fällt man manchmal von einer Höhe hinab, oder man wird ermordet oder geschlagen; aber man fühlt niemals einen Schmerz, es müßte denn sein, daß man sich selbst tatsächlich irgendwie am Bette stößt; dann fühlt man einen Schmerz und erwacht fast immer infolgedessen. So war es auch in meinem Traume: einen Schmerz fühlte ich nicht; aber ich hatte die Empfindung, als ob mit meinem Schusse alles in mir erschüttert und alles auf einmal erloschen und es rings um mich herum furchtbar dunkel geworden sei. Ich war anscheinend blind und stumm geworden, und so lag ich nun auf etwas Festem, ausgestreckt, auf dem Rücken, sah nichts und konnte nicht die geringste Bewegung machen. Um mich herum wurde gegangen und geschrien; der Hauptmann sprach in tiefem Baß, die Wirtin in ihrem Diskant, – und auf einmal wieder eine Unterbrechung, und da trug man mich schon im geschlossenen Sarge. Und ich fühlte, wie der Sarg schaukelte, und dachte darüber nach, und plötzlich überraschte mich zum ersten Male der Gedanke, daß ich ja gestorben war, vollständig gestorben, daß ich das wußte und nicht bezweifelte, daß ich nicht sah und mich nicht bewegte, aber dabei doch fühlte und dachte. Indessen söhnte ich mich bald damit aus, nahm, wie im Traume gewöhnlich, die Wirklichkeit ohne Widerspruch hin.
Und siehe, da ließ man mich in eine Gruft hinab und schüttete Erde darauf. Alle gingen weg; ich war allein, ganz allein. Ich bewegte mich nicht. Wenn ich mir früher im Wachen vorgestellt hatte, wie ich begraben werden würde, so hatte ich mit dem Begriffe des Grabes immer nur die Empfindung der Feuchtigkeit und Kälte verbunden. So auch jetzt: ich fühlte, daß mir sehr kalt war, namentlich an den Zehenspitzen; aber weiter fühlte ich nichts.
Ich lag, und merkwürdig: ich erwartete nichts, sondern nahm es ohne Widerspruch hin, daß ein Toter nichts zu erwarten hat. Aber es war feucht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, – eine Stunde oder einige Tage oder viele Tage. Aber da fiel plötzlich auf mein linkes geschlossenes Auge ein durch den Sargdeckel hindurchgesickerter Wassertropfen; ihm folgte nach einer Minute ein anderer, darauf nach einer Minute ein dritter, und so weiter und so weiter, immer in Abständen von einer Minute. Ein starker Unwille entbrannte plötzlich in meinem Herzen, und auf einmal fühlte ich in ihm einen physischen Schmerz: »Das ist meine Wunde,« dachte ich; »das ist von dem Schusse; da sitzt die Kugel …« Die Tropfen aber fielen immer noch jede Minute, und gerade auf mein geschlossenes Auge. Und ich rief auf einmal, nicht mit der Stimme (denn ich konnte mich nicht bewegen), sondern mit meinem ganzen Wesen zu dem, nach dessen Herrscherwillen das alles mit mir vorging:
»Wer du auch sein magst, aber wenn du bist, und wenn etwas Vernünftigeres existiert als das, was sich jetzt vollzieht, so laß dieses Vernünftigere auch hier stattfinden. Wenn du mich aber für meinen unvernünftigen Selbstmord durch die Garstigkeit und Sinnlosigkeit eines weiteren Daseins strafst, so wisse, daß keine Qual, die mir zuteil werden mag, jemals der Geringschätzung wird gleichkommen können, die ich schweigend empfinden werde, und wenn die Qual Millionen Jahre dauern sollte! …«
So rief ich und verstummte dann. Fast eine ganze Minute lang dauerte das tiefe Schweigen, und es fiel sogar noch ein Tropfen herunter; aber ich wußte, ich wußte und glaubte mit unerschütterlicher Festigkeit, daß sich jetzt sofort alles sicherlich ändern werde. Und siehe da, auf einmal tat sich mein Grab auf. Das heißt, ich weiß nicht, ob es durch Aufgraben geöffnet wurde; aber ich wurde von einem dunklen, mir unbekannten Wesen ergriffen, und wir befanden uns plötzlich im Weltenraume. Ich wurde auf einmal wieder sehend: es war tiefe Nacht, und noch niemals, noch niemals hatte es eine solche Dunkelheit gegeben! Wir flogen im Weltenraume schon fern von der Erde dahin. Ich fragte den, der mich trug, nach nichts; ich wartete und war stolz. Ich gab mir selbst die Versicherung, daß ich mich nicht fürchtete, und wollte bei dem Gedanken, daß ich mich nicht fürchtete, beinahe vergehen vor Entzücken. Ich erinnere mich nicht, wie lange wir so flogen, und habe keine Vorstellung davon: es geschah alles so wie immer im Traume, wenn man sich über Raum und Zeit und über die Gesetze des Daseins und der Vernunft hinwegsetzt und nur bei denjenigen Punkten verweilt, von denen das Herz träumt. Ich erinnere mich, daß ich auf einmal in der Dunkelheit einen kleinen Stern erblickte.
»Ist das der Sirius?« fragte ich; ich konnte mich nicht beherrschen, obgleich ich eigentlich nach nichts fragen wollte. »Nein, das ist jener selbe Stern, den du zwischen den Wolken sahst, als du nach Hause zurückkehrtest«, antwortete mir das Wesen, das mich trug. Ich wußte, daß es eine Art von Menschenantlitz hatte. Seltsamerweise liebte ich dieses Wesen nicht; ja, ich empfand sogar eine tiefe Abneigung gegen dasselbe. Ich hatte ein vollständiges Nichtsein erwartet und mich in dieser Voraussetzung ins Herz geschossen. Und nun befand ich mich in den Händen eines Wesens, das allerdings kein menschliches Wesen war, aber doch war, existierte.
»Also gibt es auch jenseits des Grabes ein Leben!« dachte ich mit der seltsamen Leichtfertigkeit des Traumes; aber das eigentliche Wesen meines Herzens blieb im tiefsten Grunde unverändert. »Und wenn ich denn«, dachte ich, »von neuem sein und wieder nach jemandes unwiderstehlichem Willen leben muß, so will ich mich nicht besiegen und erniedrigen lassen!« – »Du weißt, daß ich mich vor dir fürchte, und verachtest mich wohl deswegen?« sagte ich auf einmal zu meinem Gefährten; ich vermochte diese erniedrigende Frage, die ein Bekenntnis einschloß, nicht zurückzuhalten und fühlte im Herzen meine Erniedrigung wie einen Nadelstich.
Er antwortete nicht auf meine Frage; aber ich fühlte plötzlich, daß ich nicht verachtet, nicht verlacht und nicht einmal bemitleidet wurde, und daß unser Weg ein unbekanntes, geheimnisvolles Ziel hatte, das zu mir allein in Beziehung stand. Die Angst wuchs in meinem Herzen. Stumm, aber unter Qualen teilte sich mir etwas von meinem schweigsamen Gefährten mit und durchdrang mich gewissermaßen. Wir flogen in dunklen, unbekannten Räumen. Schon längst sah ich die dem Auge bekannten Gestirne nicht mehr. Ich wußte, daß es in den himmlischen Räumen Sterne gibt, von denen die Strahlen erst in Tausenden, ja Millionen von Jahren zur Erde gelangen. Vielleicht durchflogen wir schon diese Räume. Ich erwartete etwas mit einer furchtbaren Unruhe, die mein Herz marterte.
Und auf einmal erschütterte mich ein bekanntes und im höchsten Grade angenehmes Gefühl; ich erblickte auf einmal unsere Sonne! Ich wußte, daß das nicht unsere Sonne sein konnte, von der unsere Erde geboren ist, und daß wir uns von unserer Sonne in einer unendlichen Entfernung befanden; aber ich erkannte auf irgendwelche Weise mit meinem ganzen Wesen, daß dies eine vollständig ebensolche Sonne war wie die unsrige, ihre Wiederholung, ihre Doppelgängerin. Ein angenehmes, wonniges Gefühl des Entzückens erfüllte meine Seele: die verwandte Kraft des Lichtes, eben jenes Lichtes, welches mich geboren hatte, fand ihren Widerhall in meinem Herzen und erweckte es zu neuem Leben, und ich empfand zum erstenmal seit meinem Begräbnis in mir wieder Leben, das frühere Leben.
»Aber wenn das die Sonne ist, wenn das eine ganz ebensolche Sonne ist wie die unsrige,« rief ich, »wo ist denn dann die Erde?« Und mein Gefährte wies auf einen kleinen Stern hin, der in der Dunkelheit mit smaragdenem Glanze schimmerte. Wir flogen gerade auf ihn zu.
»Sind solche Wiederholungen im Universum wirklich möglich, ist das wirklich ein Naturgesetz? Und wenn das dort die Erde ist, ist es dann wirklich eine ebensolche Erde wie die unsrige … eine ganz ebensolche unglückliche, arme, aber doch teure und ewig geliebte Erde, die eine ebensolche qualvolle Liebe zu sich sogar bei ihren undankbarsten Kindern erweckt wie die unsrige?« rief ich, zitternd vor unbezwinglicher, enthusiastischer Liebe zu jener heimischen früheren Erde, die ich verlassen hatte. Das Bild der armen Kleinen, gegen die ich mich so häßlich benommen hatte, schimmerte vor meinem geistigen Blicke auf.
»Du wirst alles sehen«, antwortete mein Gefährte, und eine Art von Traurigkeit war aus dem Klange seiner Stimme herauszuhören. Aber wir näherten uns schnell dem Planeten. Er wuchs vor meinen Augen; ich unterschied schon den Ozean, die Umrisse Europas, und auf einmal flammte das seltsame Gefühl einer großen, heiligen Eifersucht in meinem Herzen auf: »Wie kann es nur eine derartige Wiederholung geben, und wozu? Ich liebe nur jene Erde, die ich verlassen habe, und auf der Spritzflecken meines Blutes zurückgeblieben sind, als ich Undankbarer durch einen Schuß in mein Herz mein Leben auslöschte; und ich kann nur sie lieben. Niemals, niemals habe ich aufgehört, sie zu lieben, und sogar in jener Nacht, als ich mich von ihr trennte, habe ich sie vielleicht mit größerer Qual geliebt als je. Gibt es auch auf dieser neuen Erde Qualen? Auf unserer Erde können wir nur mit Qualen und nur durch Qualen lieben! Wir verstehen nicht anders zu lieben und kennen keine andere Liebe. Mich verlangt nach Qual, um zu lieben. Es verlangt mich, ich dürste in diesem Augenblicke danach, nur jene Erde, die ich verlassen habe, unter Tränenströmen zu küssen; ich will kein Leben auf einer andern Erde; ich lehne ein solches ab! …«
Aber mein Gefährte hatte mich schon verlassen. Ich befand mich plötzlich, ohne daß ich selbst bemerkt hätte wie, auf dieser andern Erde im hellen Lichte eines paradiesisch schönen, sonnigen Tages. Ich glaube, ich stand auf einer jener Inseln, die auf unserer Erde den griechischen Archipel bilden, oder irgendwo am Gestade des Festlandes, das an diesem Archipel liegt. O, alles war ganz so wie bei uns; aber alles schien zu strahlen wie an einem Festtage, wie wenn endlich ein großer, heiliger Triumph erreicht wäre. Das freundliche, smaragdgrüne Meer plätscherte leise an den Ufern und küßte sie mit offensichtlicher, beinah bewußter Liebe. Hohe, schöne Bäume standen da im vollen Schmucke ihrer Blüte, und ihre zahllosen Blättchen bewillkommneten mich (davon bin ich überzeugt) mit ihrem leisen, freundlichen Rauschen und schienen Worte der Liebe zu sprechen. Der Rasen leuchtete von bunten, duftenden Blumen. Kleine Vögel flogen scharenweise in der Luft umher, setzten sich mir ohne Furcht auf die Schultern und auf die Hände und schlugen mich fröhlich mit ihren allerliebsten, flatternden Flügelchen.
Und endlich erblickte und erkannte ich die Menschen dieser glücklichen Erde. Sie kamen von selbst zu mir, umringten mich und küßten mich. Diese Kinder der Sonne, diese Kinder ihrer Sonne, o wie schön waren sie! Niemals hatte ich auf unserer Erde eine solche Schönheit beim Menschen gesehen. Höchstens bei unseren Kindern in ihren ersten Lebensjahren könnte man einen entfernten, wiewohl nur schwachen Schimmer dieser Schönheit finden. Die Augen dieser glücklichen Menschen leuchteten in klarem Glanze. Ihre Gesichter strahlten von Verstand und einer schon zur völligen Beruhigung gelangten Erkenntnis; aber diese Gesichter waren heiter; aus den Stimmen und den Worten dieser Menschen klang eine kindliche Freude heraus. O, sofort, beim ersten Blicke auf ihre Gesichter, verstand ich alles, alles! Das war die nicht durch den Sündenfall entweihte Erde; auf ihr lebten sündlose Menschen; sie lebten in einem ebensolchen Paradiese wie das, in welchem nach den Überlieferungen der ganzen Menschheit auch unsere sündigen Ureltern ursprünglich gelebt hatten, nur mit dem Unterschiede, daß die ganze Erde hier überall ein und dasselbe Paradies war. Diese Menschen umdrängten mich mit fröhlichem Lachen und liebkosten mich; sie führten mich in ihre Wohnungen, und jeder von ihnen wollte mich beruhigen. O, sie befragten mich nach nichts, sondern wußten, wie mir schien, schon alles und wünschten so schnell wie möglich den Ausdruck des Leidens von meinem Gesichte zu verscheuchen.
Ich sage noch einmal: Na, mag es auch nur ein Traum gewesen sein! Aber die Empfindung der Liebe dieser unschuldigen Menschen ist mir für alle Zeit verblieben, und ich fühle, daß ihre Liebe sich auch jetzt von dort auf mich ergießt. Ich selbst habe diese Menschen gesehen, sie kennen gelernt, mich von ihrem Wesen überzeugt, sie liebgewonnen und nachher um sie gelitten. O, ich begriff sofort, sogar damals schon, daß ich sie in vieler Hinsicht überhaupt nicht verstehen würde; mir als modernem russischem Fortschrittler und garstigem Petersburger schien es zum Beispiel unerklärlich, daß sie, die doch so viel wußten, unsere Wissenschaft nicht besaßen.
Aber ich begriff bald, daß ihr Wissen durch andere Einsichten genährt und zur Vollkommenheit gebracht wurde als bei uns auf der Erde, und daß ihre Bestrebungen ebenfalls ganz andere waren. Sie wünschten nichts und waren in ihren Seelen ruhig; sie strebten nicht nach Erkenntnis des Lebens in der Weise, wie wir es zu erkennen streben; denn ihr Leben hatte bereits einen vollen Inhalt. Aber ihr Wissen war tiefer und höher als bei unserer Wissenschaft; denn unsere Wissenschaft sucht zu erklären, was das Leben eigentlich ist; sie strebt selbst danach, es zu erkennen, um andere zu lehren, wie sie leben sollen; jene aber wußten auch ohne Wissenschaft, wie sie zu leben hatten, und das begriff ich; aber ihr Wissen konnte ich nicht begreifen. Sie wiesen auf ihre Bäume hin, und ich vermochte den Grad von Liebe, mit dem sie sie betrachteten, nicht zu begreifen: sie redeten von ihnen gerade so, als ob es ihnen ähnliche Wesen wären.
Und wissen Sie, vielleicht irre ich mich nicht, wenn ich sage, daß sie mit ihnen sprachen! Ja, sie kannten die Sprache der Bäume, und ich bin überzeugt, daß auch diese die Sprache der Menschen verstanden. Von der gleichen Art war auch ihr Verhältnis zu der ganzen übrigen Natur, zu den Tieren, welche friedlich mit ihnen zusammen lebten, sie nicht anfielen und sie liebten, da sie durch die Liebe derselben überwunden waren. Sie wiesen auf die Sterne hin und sagten zu mir etwas von diesen, was ich nicht begreifen konnte; aber ich bin überzeugt, daß sie auf irgendeine Weise mit den himmlischen Sternen in Verbindung standen, nicht nur durch ihre Gedanken, sondern auf irgendwelchem lebendigen Wege.
O, diese Menschen trachteten nicht danach, daß ich sie verstehen möchte; sie liebten mich auch ohne das; aber andrerseits wußte ich, daß auch sie mich niemals verstehen würden, und darum redete ich mit ihnen fast gar nicht von unserer Erde. Ich küßte nur vor ihren Augen jene Erde, die sie bewohnten, und bezeigte ihnen selbst ohne Worte meine hohe Verehrung, und sie sahen das und ließen es geschehen, daß ich es tat, und schämten sich nicht darüber, daß ich sie deswegen verehrte, weil sie selbst mich so sehr liebten. Sie grämten sich nicht um meinetwillen, wenn ich ihnen manchmal unter Tränen die Füße küßte, mir freudig im Herzen bewußt, mit wie starker Liebe sie die meinige erwiderten. Mitunter fragte ich mich erstaunt, wie es zuging, daß sie während der ganzen Zeit einen solchen Menschen, wie ich, nicht kränkten und kein einziges Mal in einem solchen Menschen, wie ich, ein Gefühl der Eifersucht und des Neides erweckten.
Oftmals fragte ich mich, wie es zuging, daß ich, so ein Prahler und Lügner, zu ihnen nicht von meinen Kenntnissen sprach, von denen sie sicherlich keinen Begriff hatten, und nicht den Wunsch hegte, sie in Erstaunen zu versetzen, sei es auch nur aus Liebe zu ihnen. – Sie waren ausgelassen und fröhlich wie Kinder. Sie schweiften in ihren schönen Hainen und Wäldern umher; sie sangen ihre schönen Lieder; sie nährten sich von leichter Kost, von den Früchten ihrer Bäume, dem Honig ihrer Wälder und der Milch der sie liebenden Tiere. Für ihre Nahrung und für ihre Kleidung wendeten sie nur wenig und nur leichte Arbeit auf.
Es gab bei ihnen Liebe, und es wurden Kinder geboren; aber niemals bemerkte ich bei ihnen Ausbrüche jener grausamen Wollust, die fast allen Menschen auf unserer Erde eigen ist, allen und jedem, und die die einzige Quelle fast aller Sünden unserer Menschheit ist. Sie freuten sich über die Kinder, die sich bei ihnen einstellten, wie über neue Teilnehmer an ihrer Glückseligkeit. Es gab unter ihnen keine Streitigkeiten und keine Eifersucht, und sie begriffen nicht einmal, was das war. Ihre Kinder waren die Kinder aller, da alle eine einzige Familie bildeten. Es gab bei ihnen fast gar keine Krankheiten, obgleich es den Tod bei ihnen gab; sondern ihre Greise verschieden so sanft, als ob sie einschliefen, von Menschen, die ihnen Lebewohl sagten, umgeben, sie segnend, ihnen zulächelnd und selbst von deren heiterem Lächeln geleitet.
Trauer und Tränen habe ich dabei nicht gesehen; es zeigte sich dabei nur eine bis zum Entzücken gesteigerte Liebe; aber dieses Entzücken war ein ruhiges, vollbefriedigtes, kontemplatives. – Man konnte denken, daß sie mit ihren Verstorbenen sogar noch nach deren Tode in Verbindung standen, und daß die Gemeinschaft, in der sie mit ihnen während des Erdenlebens gestanden hatten, durch den Tod nicht aufgehoben wurde. Sie verstanden mich kaum, als ich sie nach dem ewigen Leben fragte, waren aber von diesem offenbar so fest überzeugt, daß das für sie keine Streitfrage bildete. Sie hatten keine Tempel, standen aber in einer Art von steter, lebendiger, ununterbrochener Gemeinschaft mit dem Universum; sie hatten keinen Glauben, aber dafür das feste Wissen, daß, sobald ihre irdische Freude zu den Grenzen der irdischen Natur gelangt sei, für sie eine noch größere Steigerung der Beziehungen zum Universum eintrete.
Sie erwarteten diesen Augenblick mit Freude, aber ohne Ungeduld, ohne sich mit Schmerz nach ihm zu sehnen, sondern sie schienen ihn schon in ihren Herzen zu ahnen und machten einander von diesen Ahnungen Mitteilung. Wenn sie abends hingingen, um sich schlafen zu legen, sangen sie gern harmonische, wohlklingende Chorlieder. In diesen Liedern gaben sie alle ihre Gefühle wieder, die der scheidende Tag in ihnen erregt hatte, priesen ihn und nahmen von ihm Abschied. Sie priesen die Natur, die Erde, das Meer, die Wälder. Sie verfaßten gern Lieder aufeinander und lobten einander wie Kinder; das waren ganz einfache Lieder; aber sie kamen aus dem Herzen und fanden den Weg zum Herzen. Und nicht nur in den Liedern priesen sie einander, sondern auch ihr ganzes Leben füllten sie, wie es schien, damit aus, daß sie einander liebten und bewunderten.
Es war eine Art von wechselseitiger, allgemeiner, gemeinschaftlicher Verliebtheit. Manche ihrer triumphierenden, begeisterten Lieder blieben mir überhaupt fast unverständlich. Obwohl ich die Worte verstand, konnte ich doch nie in ihren ganzen Sinn eindringen. Der Sinn blieb für meinen Verstand unfaßbar; dafür drang er mir tief ins Herz, und zwar immer mehr und mehr.
Ich sagte ihnen oft, ich hätte das alles früher schon längst geahnt; diese ganze Freude und Herrlichkeit habe sich mir schon auf unserer Erde durch eine süße Sehnsucht kundgetan, die sich zeitweilig bis zu unerträglichem Leide gesteigert habe; ich hätte sie alle und ihre Herrlichkeit in den Träumen meines Herzens und in den Phantasien meines Verstandes geahnt; ich hätte auf unserer Erde oft nicht ohne Tränen in die untergehende Sonne blicken können. Mit meinem Hasse gegen die Menschen unserer Erde sei immer ein Gefühl des Grames verbunden gewesen: ich hätte mich gefragt, warum ich sie nicht hassen könne, ohne sie zu lieben; warum ich nicht umhin könne ihnen zu verzeihen, aber bei meiner Liebe zu ihnen doch Gram empfände; warum ich sie nicht hassend lieben könne?
Sie hörten mich an, und ich sah, daß sie sich das, was ich sagte, nicht vorstellen konnten; aber ich bedauerte nicht, es ihnen gesagt zu haben: ich wußte, daß sie meinen Gram um diejenigen, die ich verlassen hatte, in seiner ganzen Größe begriffen. Ja, wenn sie mich mit ihrem freundlichen, von Liebe erfüllten Blicke ansahen, wenn ich fühlte, daß im Verkehr mit ihnen auch mein Herz ebenso unschuldig und rechtschaffen wurde wie die ihrigen, dann bedauerte ich es nicht, daß ich sie nicht verstand. Ich konnte kaum atmen vor der Empfindung der Fülle des Lebens, und ich betete schweigend für sie.
O, alle lachen mir jetzt ins Gesicht und versichern mir, solche Einzelheiten, wie ich sie jetzt wiedergäbe, könne man nicht einmal träumen; ich hätte in meinem Traume nur eine einzige Empfindung gehabt, die durch mein eigenes Herz in seinem irren Phantasieren hervorgerufen worden sei; die Einzelheiten aber hätte ich selbst erst nach dem Erwachen erdacht. Und als ich ihnen gestand, daß es vielleicht wirklich so zugegangen sei, – o Gott, was schlugen sie da für ein Gelächter auf, und zu welcher Heiterkeit verhalf ich ihnen!
O ja, allerdings hatte mich nur die eine Empfindung jenes Traumes überwältigt, und nur sie allein hatte sich in meinem wunden, blutenden Herzen erhalten; die wirklichen Bilder und Formen meines Traumes aber, daß heißt diejenigen, die ich tatsächlich gerade während des Träumens sah, waren von einer so vollkommenen Harmonie, von einer so bezaubernden Schönheit und Wahrheit, daß ich nach dem Erwachen nicht imstande war, sie durch unsere schwachen Worte zu verkörpern; sie vergingen und verschwanden daher notwendigerweise in meinem Geiste, und ich war infolgedessen wirklich vielleicht selbst unbewußterweise gezwungen, die Einzelheiten nachher dichterisch zu rekonstruieren, wobei ich sie allerdings entstellte, namentlich da ich leidenschaftlich wünschte, sie so schnell wie möglich und wenigstens einigermaßen wiederzugeben.
Aber andrerseits, wie kann man sich weigern mir zu glauben, daß alles sich so verhielt? Vielleicht war es noch tausendmal besser, schöner, freudevoller, als ich es schildere? Mag es ein Traum gewesen sein; aber es war doch nicht möglich, daß das alles nicht gewesen sein sollte. Wissen Sie, ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen: vielleicht war das alles überhaupt kein Traum? Denn dort begab sich etwas Derartiges, etwas so erschreckend Wahrhaftiges, daß man es gar nicht hätte bloß träumen können. Mag auch mein Herz den Traum erzeugt haben; aber war denn mein Herz allein imstande, jenen schrecklichen wahren Vorgang zu erzeugen, der sich dann mit mir zutrug? Wie hätte ich allein diesen ausdenken oder mit dem Herzen träumen können? Konnten etwa mein kleinliches Herz und mein launenhafter, wertloser Verstand sich zu einer solchen Offenbarung der Wahrheit emporschwingen? O, urteilen Sie selbst: ich habe es bisher verschwiegen; aber jetzt will ich auch diese Wahrheit aussprechen. Die Sache ist die, daß ich … sie alle verdarb!
Ja, ja, es endete damit, daß ich sie alle verdarb! Wie sich das vollziehen konnte, das weiß ich nicht; aber an die Sache selbst erinnere ich mich deutlich. Der Traum durchflog Jahrtausende und hinterließ bei mir nur eine Gesamtempfindung. Ich weiß nur, daß die Ursache des Sündenfalles ich war. Wie eine garstige Trichine, wie ein Pestatom das ganze Reiche infiziert, so infizierte auch ich mit mir diese ganze vor meiner Ankunft so glückliche, sündlose Erde. Sie lernten lügen und gewannen die Lüge lieb und erkannten die Schönheit der Lüge. O, das begann vielleicht ganz harmlos, mit Scherz, mit Koketterie, mit verliebtem Spiel, wirklich vielleicht mit einem Atom; aber dieses Atom Lüge drang in ihre Herzen ein und gefiel ihnen. Darauf entstand schnell Sinnlichkeit; die Sinnlichkeit erzeugte Eifersucht, die Eifersucht Grausamkeit …
O, ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht; aber bald, sehr bald floß das erste Blut: sie staunten und erschraken und begannen sich voneinander zu trennen und abzusondern. Es bildeten sich Vereinigungen; aber diese richteten nun schon ihre Spitze gegeneinander. Es fingen Vorwürfe und Beschuldigungen an. Sie lernten die Scham kennen und erhoben die Scham zu einer Tugend. Es bildete sich der Begriff der Ehre heraus und erhob in jeder Vereinigung seine Fahne. Sie begannen die Tiere zu quälen, und die Tiere entfernten sich von ihnen in die Wälder und wurden ihre Feinde. Es begann der Streit um die Trennung, um die Absonderung, um die Persönlichkeit, um das Mein und Dein. Sie fingen an in verschiedenen Sprachen zu reden. Sie lernten das Leid kennen und gewannen das Leid lieb; sie dürsteten nach Qual und sagten, die Wahrheit lasse sich nur durch Qual erreichen.
Damals erschien bei ihnen auch die Wissenschaft. Als sie schlecht geworden waren, fingen sie an von Brüderlichkeit und Humanität zu reden und verstanden diese Ideen. Als sie Verbrecher geworden waren, erfanden sie die Gerechtigkeit und schrieben sich ganze Gesetzbücher, um die Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten, und stellten, um die Gesetzbücher zu sichern, die Guillotine auf. Sie erinnerten sich kaum noch an das, was sie verloren hatten, und wollten nicht einmal daran glauben, daß sie jemals unschuldig und glücklich gewesen seien. Sie spotteten sogar über die Vorstellung von diesem ihrem früheren Glücke und nannten sie ein Hirngespinst.
Sie konnten sich nicht einmal von der Art und Weise dieses Glückes ein Bild machen; aber es begab sich etwas Seltsames und Wunderliches: obwohl sie jeden Glauben an das frühere Glück verloren hatten und dieses ein Märchen nannten, begehrten sie doch dermaßen von neuem unschuldig und glücklich zu sein, daß sie sich vor dem Wunsche ihres Herzens wie Kinder hinwarfen, diesen Wunsch vergötterten, ihm Tempel erbauten und anfingen zu ihrer eigenen Idee, zu ihrem eigenen »Wunsche« zu beten; und während sie von der Unmöglichkeit der Erfüllung und Verwirklichung dieses Wunsches vollkommen überzeugt waren, vergötterten sie ihn doch gleichzeitig unter Tränen und beugten die Knie vor ihm.
Und doch, wenn es sich hätte begeben können, daß sie zu dem verlorenen Zustande der Unschuld und des Glückes zurückgekehrt wären, und wenn jemand ihn ihnen von neuem gezeigt und sie gefragt hätte, ob sie zu ihm zurückkehren wollten, – so hätten sie diese Frage bestimmt verneint. Sie antworteten mir: »Mögen wir auch Lügner, Bösewichte und Ungerechte sein, wir wissen das und weinen darüber und quälen uns deswegen selbst, und wir martern und bestrafen uns vielleicht sogar mehr, als es jener barmherzige Richter tun wird, der uns richten wird, und dessen Namen wir nicht kennen.
Aber wir haben die Wissenschaft, und durch sie werden wir die Wahrheit von neuem finden; aber dann werden wir sie mit Bewußtsein aufnehmen. Das Wissen steht höher als das Gefühl, die Erkenntnis des Lebens höher als das Leben. Die Wissenschaft wird uns Weisheit geben; die Weisheit wird die Gesetze aufdecken; die Kenntnis der Gesetze des Glückes aber steht höher als das Glück.«
So redeten sie zu mir, und nach solchen Worten liebte jeder sich selbst mehr als alle andern, und sie konnten überhaupt nicht anders handeln. Jeder war mit solcher Eifersucht auf die Wahrung seiner Persönlichkeit bedacht, daß er sich mit aller Kraft bemühte, die Persönlichkeit der anderen zu erniedrigen und klein zu machen; und darein setzte er seine Lebensaufgabe. Es kam die Sklaverei auf; es kam sogar eine freiwillige Sklaverei auf: die Schwachen ordneten sich willig den Stärksten unter und bedangen sich dabei nur aus, daß diese ihnen helfen sollten, noch Schwächere, als sie selbst waren, zu unterdrücken.
Es traten Gerechte auf, die zu diesen Menschen kamen und mit Tränen zu ihnen von ihrem Stolze, von dem Verluste des rechten Maßes und der Harmonie und von dem Verluste der Scham redeten. Man spottete über sie oder steinigte sie. Heiliges Blut floß auf den Schwellen der Tempel. Dafür aber erschienen Leute, die sich eine Art und Weise auszudenken versuchten, wie alle sich wieder so vereinigen könnten, daß ein jeder, ohne daß er aufzuhören brauchte sich selbst mehr als alle andern zu lieben, gleichzeitig keinen andern störe und auf diese Art alle wie in einer einträchtigen Gesellschaft zusammen lebten.
Ganze Kriege entstanden infolge dieser Idee. Alle Kriegführenden glaubten zu gleicher Zeit fest, daß die Wissenschaft, die Weisheit und der Trieb der Selbsterhaltung die Menschen endlich dazu zwingen würden, sich zu einer einträchtigen, vernünftigen Gesellschaft zu vereinigen; und darum bemühten sich einstweilen zur Beschleunigung der Sache die »Weisen«, möglichst schnell alle »Unweisen«, die ihre Idee nicht begriffen, auszurotten, damit sie dem Triumphe der Idee nicht hinderlich wären.
Aber der Trieb der Selbsterhaltung wurde bald schwächer; es traten stolze, sinnliche Männer auf, die geradezu alles oder nichts forderten. Um alles zu erlangen, griffen sie zur Übeltat, und wenn es ihnen nicht glückte, zum Selbstmord. Es entstanden Religionen mit dem Kultus des Nichtseins und der Selbstvernichtung zum Zwecke der ewigen Ruhe im Nichts. Endlich wurden diese Menschen bei ihrer sinnlosen Bemühung müde, und auf ihren Gesichtern erschien der Ausdruck des Leidens, und diese Leute verkündeten, das Leiden sei Schönheit; denn nur im Leiden liege Sinn. Sie besangen das Leiden in ihren Liedern.
Ich ging händeringend unter ihnen umher und weinte über sie; aber ich liebte sie vielleicht noch mehr als früher, wo auf ihren Gesichtern noch kein Ausdruck des Leidens lag und sie so unschuldig und so schön waren. Ich liebte ihre von ihnen entweihte Erde noch mehr als zu der Zeit, wo sie ein Paradies war, und nur weil auf ihr das Leid erschienen war. Ach, ich hatte immer Leid und Gram geliebt, aber nur für mich, für mich; aber über sie weinte ich, da ich sie bemitleidete. Die Arme nach ihnen ausstreckend, beschuldigte, verfluchte und verachtete ich in meiner Verzweiflung mich selbst. Ich sagte ihnen, ich sei es, der dies alles angerichtet habe, ich allein; ich hätte ihnen Sittenverderbnis, Ansteckung und Lüge gebracht! Ich flehte sie an, mich ans Kreuz zu schlagen; ich unterwies sie, wie man ein Kreuz macht.
Ich vermochte nicht, ich hatte nicht die Kraft, mich selbst zu töten; aber ich wollte von ihnen Qualen empfangen; ich dürstete nach Qualen; ich dürstete danach, in diesen Qualen mein Blut bis auf den letzten Tropfen zu vergießen. Aber sie lachten nur über mich und hielten mich schließlich für einen Halbverrückten. Sie verteidigten mich, indem sie sagten, sie hätten nur das empfangen, was sie sich selbst gewünscht hätten, und alles, was jetzt bestände, habe sich mit innerer Notwendigkeit so gestaltet. Zuletzt erklärten sie mir, ich würde ihnen gefährlich, und sie würden mich ins Irrenhaus setzen, wenn ich nicht schwiege. Da drang der Gram mit solcher Gewalt in meine Seele, daß mein Herz sich zusammenzog und ich sterben zu müssen glaubte … nun, und da erwachte ich.
Es war schon Morgen; das heißt, hell geworden war es noch nicht; aber es war zwischen fünf und sechs Uhr. Ich kam zum Bewußtsein in jenem selben Lehnstuhl; meine Kerze war ganz heruntergebrannt; beim Hauptmann schliefen alle, und ringsum herrschte eine Stille, wie sie in unserer Wohnung nur selten vorkam. Das erste, was ich tat, war, daß ich im höchsten Erstaunen aufsprang; noch nie war mir etwas Ähnliches begegnet, nicht einmal, was unbedeutende Einzelheiten betraf: zum Beispiel war ich noch nie so in meinem Lehnstuhl eingeschlafen.
Dann, während ich dastand und meine Gedanken sammelte, sah ich plötzlich vor mir meinen geladenen, schußfertigen Revolver schimmern; aber im nächsten Augenblick stieß ich ihn von mir! O, jetzt hatte ich das Leben nötig, das Leben! Ich hob die Arme in die Höhe und rief die ewige Wahrheit an; aber Tränen erstickten meine Stimme; Begeisterung, unermeßliche Begeisterung erhob mein ganzes Wesen. Ja, leben und – verkündigen! O, ein Verkündiger zu werden, beschloß ich gleich in jenem Augenblicke, und zwar natürlich fürs ganze Leben! Ich werde hingehen, um zu verkündigen; ich will verkündigen, – was? Die Wahrheit; denn ich habe sie gesehen; ich habe sie mit meinen Augen gesehen; ich habe ihre ganze Herrlichkeit gesehen!
Und seitdem verkündige ich nun! Ich füge hinzu: ich liebe alle, die über mich lachen, mehr als alle übrigen. Warum ich das tue, das weiß ich nicht und kann ich nicht erklären; aber mag es meinetwegen so sein! Sie sagen, ich ginge auch jetzt schon fehl, und wenn ich jetzt schon so fehlginge, was werde dann erst in Zukunft geschehen? Um die reine Wahrheit zu sagen: ich gehe fehl, und vielleicht wird es in Zukunft noch schlimmer werden. Sicherlich werde ich noch mehrmals fehlgehen, bis ich gefunden haben werde, wie man verkündigen muß, das heißt mit welchen Worten und mit welchen Taten; denn das richtig auszuführen, ist sehr schwer.
Ich sehe ja auch jetzt das alles sonnenklar; aber hören Sie: wer geht denn nicht fehl? Und dabei gehen doch alle nach ein und demselben Ziele; wenigstens streben alle nach ein und demselben Ziele, von dem Weisen bis zu dem gemeinsten Räuber, nur auf verschiedenen Wegen. Das ist eine alte Wahrheit; aber neu ist dabei dies: ich kann gar nicht so sehr fehlgehen. Denn ich habe die Wahrheit gesehen; ich habe sie gesehen und weiß, daß die Menschen schön und glücklich sein können, ohne daß sie darum die Fähigkeit, auf der Erde zu leben, verloren zu haben brauchen. Ich will und kann nicht glauben, daß das Böse der normale Zustand der Menschen sei. Alle lachen jedoch nur über diesen meinen Glauben.
Aber wie kann sich jemand weigern, mir zu glauben: ich habe ja die Wahrheit gesehen, – nicht daß ich sie mit dem Verstande erfunden hätte, sondern ich habe sie gesehen, wirklich gesehen, und ihre lebende Gestalt hat meine Seele auf ewig erfüllt. Ich habe sie in so vollendeter Totalität gesehen, daß ich nicht glauben kann, sie wäre bei den Menschen ein Ding der Unmöglichkeit. Und wie soll ich denn eigentlich fehlgehen? Ich werde ein wenig seitwärts geraten, gewiß, sogar öfters, und werde vielleicht sogar mit ungeeigneten Worten reden, aber nicht auf lange: die lebende Gestalt dessen, was ich gesehen habe, wird mich immer begleiten und mich immer wieder auf den richtigen Weg bringen und meine Schritte lenken. O, ich bin mutig, ich bin frisch; ich werde hingehen, ich werde hingehen, und wäre es auch auf tausend Jahre.
Wissen Sie, ich wollte es sogar anfangs verheimlichen, daß ich sie alle verdorben habe; aber das wäre ein Fehler gewesen, – gleich der erste Fehler! Aber die Wahrheit flüsterte mir zu, daß ich im Begriff sei zu lügen, und bewahrte mich und hielt mich auf rechter Bahn. Aber wie das Paradies herzustellen sei, das weiß ich nicht, weil ich nicht verstehe, es mit Worten darzustellen. Nach meinem Traume sind mir die richtigen Worte abhanden gekommen. Wenigstens die wichtigsten Worte, die notwendigsten. Aber mag das auch sein, ich werde hingehen und werde immer reden, unermüdlich; denn ich habe es doch mit meinen Augen gesehen, wenn ich auch nicht verstehe, das Gesehene mit Worten wiederzugeben. Aber gerade das können die Spötter nicht begreifen: »Er hat geträumt,« sagen sie, »hat phantasiert, eine Halluzination gehabt.«
Ach so ein Gerede! Ist denn das weise? Und sie sind so stolz! Ein Traum? Was ist denn ein Traum? Ist nicht unser Leben ein Traum? Ja, ich will noch mehr sagen: angenommen auch, daß sich das nie verwirklichen wird und das Paradies unmöglich ist (das sehe ich ja auch schon selbst ein!) – nun, so werde ich meine Lehre dennoch verkündigen.
Aber dabei wäre es doch so einfach: an einem einzigen Tage, in einer einzigen Stunde könnte alles mit einemmal in Ordnung kommen! Die Hauptsache ist: liebe die andern wie dich selbst; das ist die Hauptsache, das ist alles, weiter ist nichts mehr nötig: dann wirst du sofort wissen, was du zu tun hast. Und dabei ist das ja nur eine alte Wahrheit, die billionenmal wiederholt und gelesen, aber doch den Menschen nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist!
»Die Erkenntnis des Lebens steht höher als das Leben, die Kenntnis der Gesetze des Glückes höher als das Glück«, das ist die Anschauung, die bekämpft werden muß! Und ich werde sie bekämpfen.Wenn nur alle wollen, dann wird alles sogleich in Ordnung kommen.
Aber jenes kleine Mädchen habe ich ausfindig gemacht … Und ich werde hingehen! Ich werde hingehen!
Psychopathen unter uns von Hans Niemand
in “Psychopathie und Endzeit”
Wenn es um Psychopathie geht, lohnt sich ein Blick auf die Arbeit von Dr. Catherine Horton. Aus systemischer Sicht ist Psychopathie generell ein erfolgsversprechender Persönlichkeitsmodus. Gesellschaften werden nicht nur von Psychopathen infiltriert, sondern es besteht auch eine große Chance, dass sie von psychopathischen Wesen übernommen werden. Nicht nur innerhalb bestimmter Gesellschaften und Gruppen, sondern innerhalb jeder Gesellschaft und Gruppe.
Je sichtbarer und mächtiger eine Gruppe ist, desto mehr zieht sie machthungrige Psychopathen an. Man kann nichts dagegen tun. Man muss es nur verstehen. Religionen, Nationen, Organisationen, Unternehmen, Parteien, Bewegungen – jede Gruppe, die sich zu einem gemeinsamen Zweck zusammenschließt – wird sehr wahrscheinlich infiltriert – und letztendlich übernommen.
Was ist also die Lösung? Ganz einfach: Auflösung ist die Lösung. Bei Brandgefahr sollte man nicht viel Holz sammeln. Familienverbände sind schlimm genug. Und groß genug. Sollen sie sich doch mit den Psychopathen unter ihnen auseinandersetzen. Soll der psychopathische Sohn seinen Vater austricksen und ruinieren oder seine Frau täuschen und traumatisieren – aber lasst ihn nicht eine Kirche oder ein Land regieren.
Kleinere Einheiten so zu organisieren, dass immer größere entstehen, ist von vornherein psychopathisch. Denn egal, wie man die Absicht dahinter nennt, es geht immer nur darum, Macht und Kontrolle anzuhäufen. Kein Vater und keine Mutter will mehr als einen Haufen Kinder, geschweige denn die Verantwortung für die Kinder anderer übernehmen. Einfach, weil es zu viel Verantwortung ist. Außer, sie sind Psychopathen, dann fühlen sie sich nicht für andere verantwortlich – sondern folgen einfach dem Drang nach mehr Macht, als wäre das die einzige Konsequenz, die zählt – für sie.
Psychopathie ist zum Mainstream geworden. Heutzutage sind häufig sogar ganz normale Menschen Psychopathen – unabhängig von Blutlinie, Religion oder Nation. Je psychopathischer ein Mensch ist, desto stärker fühlt er sich dazu hingezogen, Teil größerer Gruppen zu sein. Und sei es nur Facebook oder Twitter oder irgendeine „liberale“ Partei oder Woke-Bewegung. Je weniger psychopathische Züge, desto weniger Zugehörigkeitsgefühl gibt es jenseits des persönlichen Raums.
Der Machthunger des Psychopathen ist aus einem ganz einfachen Grund unersättlich: Alle Macht basiert auf Ohnmacht. Und egal wie viele Stockwerke man seinem Haus hinzufügt, sein Fundament bleibt immer, wo und was es war. Der Psychopath kreist immer nur im Kreis seiner eigenen Ignoranz. Ihm muss vergeben werden, weil er nicht wirklich weiß, was er tut. Er weiß vielleicht, dass er andere verletzt. Aber er ist nicht in der Lage zu erkennen, dass er sich selbst keinen Zentimeter bewegt hat. Dass er selbst das Opfer ist – das Opfer seiner eigenen Ignoranz.
So wie Religion das Opium der Schafe ist, ist Macht das Opium der Wölfe. „Sie ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt der herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist“, sagt Marx über Religion. Aber das gilt auch für die CIA, die KP und die italienische Mafia. Schaf und Wolf sind beide unterdrückte Kreaturen. Beide werden von derselben Unwissenheit unterdrückt. Beide kreisen in derselben Unwissenheit, beide sind unwissende Herzen und Seelen, die die Herzlosigkeit und Seelenlosigkeit erfahren, die ihre eigene Unwissenheit hervorruft. Sie glauben zwar an unterschiedliche Götter und Heilmittel – doch sowohl der Glaube als auch der Gott/das Heilmittel sind nichts als Fallen, in die beide tappen müssen. Die Schafe fühlen sich schließlich mächtig, indem sie sich mit ihren allmächtigen Göttern und Propheten identifizieren – genau wie die Wölfe. Doch alle Macht basiert auf Ohnmacht, und egal, welche Etagen man seinem Haus hinzufügt, sein Fundament bleibt unverändert. So kreisen Schafe und Wölfe immer nur im Kreis ihrer eigenen Unwissenheit.
Alle Macht basiert auf Ohnmacht, einfach weil alles Leben durch Bewusstsein geschaffen und angetrieben wird. Das Erscheinen und Verschwinden von Welten und Wesen ist eine Frage des Bewusstseins. Aus der Perspektive des Bewusstseins betrachtet ist die Ohnmacht der Wesen absolut. Bewusstsein hingegen ist alles, was ist. Jedes Wesen ist also tatsächlich Bewusstsein in der Erscheinung. Jedes Wesen ist also die absolute Macht, unabhängig von der Erscheinung. Die Erscheinung mag eine Erfahrung der Ohnmacht sein – doch die Erfahrung der Ohnmacht wird durch reine Macht ermöglicht.
Mit anderen Worten: Du bist mächtig genug, um Machtlosigkeit zu erfahren – und ermöglichst dadurch anderen, Macht über dich zu erfahren. Der Ausweg führt also offensichtlich durch den Keller. Weg davon, mit verbundenen Augen das Mauerwerk zu bauen, weg davon, in den Stockwerken zu leben, die auf Verlangen, Angst, Identität und Glauben aufgebaut sind, weg davon, im Haus der Unwissenheit hoch und runter zu laufen. Hinunter in den Keller musst du gehen, denn von dort kommst du. Von dort aus bist du in die Spiele der Unwissenheit hineingeraten. Dort kommst du aus deiner Selbsttäuschung heraus.
Nicht ihre Schuld von Sandra Anne
in “Duett”
Wenn ich an das zurückdenke, was sich wie der Anfang von allem anfühlt, ist es leicht zu erkennen, dass man dem Verstand einfach nicht entkommen kann, dass es so ist, als wäre man irgendwie darin gefangen. Aber dass niemand tatsächlich auch nur eine Ahnung davon hat, dass das, was als „Leben“ angepriesen wird, eine so kleine und belanglose Sache ist, dass irgendein anständiges Wesen irgendeiner Art damit überhaupt zufrieden sein kann, wie es ist, ist mir schleierhaft. Ich finde, es ist einfach der gravierende Mangel an gesundem Menschenverstand, der wirklich erstaunlich ist.
Wie kann man sich nicht fragen, ob es das wirklich sein kann? Verdammt, ich weiß nicht einmal, wie das passiert. Manchmal denke ich, dass die Leute ihr Leben vielleicht tatsächlich so sehr mögen. Aber dann sehe ich die ganze Verzweiflung, die direkt unter der ersten Schicht lauert, und ich bin sicher, dass sie es nicht mögen. Sie versuchen nur so sehr, so zu tun, als könnten sie es tatsächlich gut ertragen.
Ehrlich gesagt scheint es ziemlich klar zu sein, dass man einfach nicht rauskommt, wenn man nicht dazu bestimmt ist, rauszukommen. Man kann es nicht sehen, es sei denn, es springt einem entgegen. Und nichts, was irgendjemand tut, kann das bewirken. Es scheint einfach irgendein Zufall zu sein. Natürlich muss man zumindest darauf gestoßen sein, es muss einen Hinweis geben, der sich festsetzt, wie ein Splitter direkt unter der Haut, den man scheinbar nicht entfernen kann, der aber einfach so lästig ist, dass man ihn auch nicht ignorieren kann.
Die meisten Wesen haben das einfach nie, der Verstand lässt es nicht zu, selbst wenn es direkt dort auf dem Tisch liegt. Für die meisten Leute sieht es einfach wie Müll aus und scheint nicht einmal der kleinsten Untersuchung wert. Der Verstand selbst hat dicke Mauern, vielleicht haben alle Wesen inzwischen zu viel Konditionierung durchgemacht, es gibt einfach einen Sättigungspunkt, und wenn der erreicht ist, verfestigt sich die Auskleidung dauerhaft. Und das scheint passiert zu sein.
Natürlich ist das überhaupt nicht ihre Schuld, und wenn sie es sehen könnten, würden sie es tun. Es ist nur nicht möglich, und so tun sie es nicht. Also ja, der Traum ist, soweit ich das beurteilen kann, zum Scheitern verurteilt. Der einzige Trost ist, dass er nicht einmal real ist, nichts darin ist jemals passiert, es ist einfach nie Zeit vergangen. Alle Erinnerungen sind nur Halluzinationen, die so aussehen, als wäre etwas passiert, obwohl es nicht passiert ist, und niemand wird dadurch klüger geworden sein.
Ich frage mich nur, ob das Gewahrsein nicht irgendeine Überraschung bereithält, die allen das Hirn wegpusten wird, allein das wäre verdammt cool. An einem Tag geht jeder wie immer zur Arbeit und am nächsten Tag gleitet der ganze Planet, die Straßen, die Bäume zusammen in eine andere Dimension. Jeder schaut nach unten und kann seinen verdammten Körper nicht finden, ich bin jetzt wohl ein Wackelkopf ohne Arme und Beine, na ja, denkt er, bis er einen Spiegel findet und im Bild dort auch kein Kopf auftaucht – dann würde wahrscheinlich der blanke Horror einsetzen, der ganze Scheiß, für den er gearbeitet, nach dem er gestrebt hat, all die Mühen würden sofort als völlig umsonst angesehen werden, alles wertloser Scheiß. Das ganze Leben völlig sinnlos, alle Ambitionen, Argumente, Widerstände gegen alles würden augenblicklich zu irgendeiner Dummheit verdampfen, einfach die ganze Struktur würde irgendwie erschlaffen.
Also sprach Uwe von Bozo Brecht
in “Negative Philosophie”
Also sprach Uwe:
Ich bin Uwe, Zerstörer aller Welten. Ich bin Shiva. Ein Dämon ist mir der Höhlenmensch, die Hölle ist mir seine Höhle. Ein Graus ist mir das Selbst des Menschen, ein Spuk ist mir die Menschenwelt. Ein Spuk entstellter Wesen, ein Graus entzweiter Geister, eine blinde Höllenfahrt zum Ende hin, das nötig ist, wo das Unnötige wuchert.
Der Höhlenmensch, er müsste nur die Augen öffnen, um die Höllenfahrt selbst zu beenden. Doch weigert er sich, er will sich nicht das Ende sein. Ewig weiterfahren will er, weiter fort von sich selbst, weiter fort von seinem Ende, das ja nur sein neuer Anfang wäre, seine Wirklichkeit jenseits der Höhle, jenseits der Täuschung, die als Welt er gebaut.
Ein Theater ist seine Welt, eine Bühne seine Höhle. Inszenierung ist, was er ein Leben nennt. Ein Kult ist die Menschheit, eine Sekte, die den Austritt mit dem Tod bestraft, eine Verschwörung wider den Geist des Ganzen, wider das wahre Leben, wider das Sein jenseits der Täuschung, wider das Ende des Menschen, wider das Ende der Lügen.
Ich bin Shiva, ich bin dieses Ende. Dafür hasst Ihr mich. Und Euer gemeinsamer Hass auf mich, er stärkt Euren Kult, er zementiert noch den Wahn Eurer Angst. Worauf sonst sind denn Höllen gebaut? Bühnen für Narren sind alle Höllen, Krebsgeschwüre des Unnötigen, das sich als Lüge erhält, indem es die Wahrheit bekämpft. Blind bleibt der Wille, weil er nicht sehen will, dass er die Lüge will.
Ich bin Uwe, der große Zerstörer. Ich will nicht leben unter Euch, will nichts mehr sehen von Euren Höhlen, von Euren Bühnen, von Eurem Spuk, von Eurem Kult. Das Theater um Hoffnung und Angst, Euch ist es Nahrung, mir ist es Gift. Gift ist mir der Menschengeist, Krebsgeschwür der blinde Wille, beängstigend der Sektenkult. Euer Erhalt ist Euer Untergang. Mit Euch geht in mir unter, was ich nicht bin.
Guru und Anti-Guru sind eins. Es gibt Erleuchtung, und es gibt keine Erleuchtung. Es gibt einen Weg zur Wahrheit, und es gibt keinen Weg und keine Wahrheit. Wo alles verneint ist, ist die große Bejahung verwirklicht, denn es wurde die Verneinung ganz und gar bejaht. Das ist der Weg des Anti-Guru. Der Guru verwirklicht derweil die große Verneinung als Tanz der Bejahung. Tausend Wege zeigt er dir, die du zu gehen hast, tausend Arten, das Ziel zu verfehlen – bis du endlich aufgibst und dich niederlegst, bis du endlich als Weg und Wanderer verschwindest.
Ich bin Uwe, Tänzer um das Unzerstörbare. Meister bin ich, der stets falsche Wege zeigt. Denn eben dadurch, dass sie falsch sind, sind alle Wege richtig. Wo Kreise sich schließen, verschwinden sie. Wo ein Punkt sich selber findet, indem er erkennt, dass er sich stets nur verfehlt, da löst er sich auf. Der Guru ist das Wort, das weiß: Es wurde nie etwas gesagt. Der Anti-Guru ist das ungesagte Wort im selben Wissen.
Der Mensch ist das gesagte Wort, das nicht wissen will, dass nie etwas gesagt wurde, und folglich für wirklich hält, was nie gewesen ist. Die Menschheit ist die Sprache der willentlich Getäuschten. Zivilisation ist das Gesetzbuch eben dieses Willens. Tanz und Kult um das Unwirkliche ist sie, Kreis, der sich nicht schließen will, um den besagten Unwillen herum, als dessen Mittelpunkt sich aufzulösen und zu verschwinden.
Ständig neue Wege sucht der Mensch, ständig neue Ziele. Ständig neu erfindet sich die Sprache, doch stets bleibt jedes Wort ein Teil des Tanzes, Teil des Kultes, Teil des ungeschlossenen Kreises. Dass es so bleibt, das ist das eigentliche Ziel. Die Eigentlichkeit stets neu zu maskieren, das ist der Weg.
Ich bin Uwe, Dorn im Auge der Menschen. Als Zerstörer erwacht es sich leichter – doch es lebt sich schwerer unter den Schlafenden. Nur blinde Zerstörer sind der Zivilisation zuträglich. Denn sie tragen dazu bei, dass sich der Kreis nie schließt. Zum Dorn wird der Zerstörer erst als Anti-Guru. Nietzsches Pferd war nicht schnell genug. Zarathustra wurde das Maul gestopft. Wer befreien will, der landet hinter Gittern.
Das Wort, das sich erkennt, ist nicht mehr Teil der alten Sprache. Denn es ist ewig neu als Wort und damit Teil einer ewig neuen Sprache. Einer Zivilisation der Gurus, Anti-Gurus, Übermenschen. Neuer Tanz ist es auf den Gräbern der alten Götter, auf den Gräbern der alten Zeit. Ein ewiger Tanz im Kreis, der sich geschlossen hat, ist die ewig neue Sprache, um einen aufgelösten Mittelpunkt herum.
Und der Guru ist der Anti-Guru, und das gesagte ist das ungesagte Wort, und das Nie-Gewesen-Sein ist der aufgelöste Mittelpunkt der ewig neuen Sprache, des ewig neuen Kreises, der sich geschlossen hat. Die Angst ist tot, die Gitter sind verschwunden. Das Pferd grast friedlich in der Morgensonne. Zarathustra atmet endlich frei. Was Lehre war, ist endlich Leben.
DAS NEUE RUDEL von Basu Winter
in “Affe in Großformat”
Unsere jüngste Hündin wurde vor einem halben Jahr aus einem Zuhause hierhergebracht, in dem sie offensichtlich misshandelt worden war. So sehr, dass sie beschlossen hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Als sie hier ankam, hatte sie wochenlang nichts mehr gegessen. Sie war total abgemagert. Total abgemagert und völlig verängstigt. Wenn ich mich ihr näherte, rannte sie in Panik runter zum Tor und lief dann minutenlang den Zaun entlang. Wie ein wildes Pferd. Mehrmals nahm sie Reißaus. Aber sie kam immer nach einigen Stunden zurück. Irgendetwas sagte ihr vielleicht, dass ihre Angst nichts mit diesem Ort zu tun hatte.
Es dauerte einen Monat, bis sie sich soweit entspannt hatte, dass sie mit den anderen Hunden zu spielen begann. Und einen weiteren Monat, bis sie hier und da mit dem Schwanz wedelte, wenn sie mich sah. Und noch einen weiteren, bis sie zum ersten Mal auf mich zukam, um gestreichelt zu werden.
Mittlerweile ist sie ein ganz normaler, glücklicher Hund. Doch jedes Mal, wenn es Zeit für die langen Spaziergänge im Rudel ist, kommt sie nach nur fünf Minuten alleine zurück. Ich glaube, sie fürchtet um ihren sicheren Ort. Denn wenn sie zurückkommt, inspiziert sie aufgeregt jeden Raum im Haus und sogar den Garten, um sich zu vergewissern, ob alles noch so ist wie vor fünf Minuten, bevor sie sich neben mich legt und darauf wartet, dass die anderen nach Hause kommen.
Es berührt mich, das jeden Tag mitanzusehen. Und ich frage mich oft, wie viele Menschen einen sicheren Ort haben. Ich persönlich kenne keine Familie, die ihn bietet. Keine Freundschaft. Keine Ehe. Ich sehe nicht einmal, wie das Alleinleben einen sicheren Ort garantiert. Ganz im Gegenteil, es mag alles noch schlimmer machen, alles Drama in geistige Räume verlagern. Jetzt bist du sowohl Jäger als auch Gejagter. Angeklagter und Richter. Wächter und dein eigener Gefangener. Der Krampf verlagert sich einfach nach innen.
Ob jemand in einer missbräuchlichen Beziehung zu sich selbst steht, lässt sich ziemlich leicht erkennen. Es ist schwer zu beschreiben, aber es ist eine Art Abkapselung, die ganz automatisch abläuft. Der Mensch ist in seinem Kokon gefangen, während der Körper vor dir steht und mit dir spricht, als wäre er der Mensch. Dabei ist der Mensch gar nicht da. Er ist im Kokon, ja er ist der Kokon. Die junge Frau auf der Party zum Beispiel ist während des Gesprächs mit dir damit beschäftigt, sich zu dick zu fühlen und die Anzahl der Kalorien zu berechnen, die der Cocktail in ihrer Hand enthält. Und der Typ dort in der Ecke genießt nicht wirklich einfach nur allein sein Bier, sondern sucht die Umgebung nach Augen ab, die ihn verurteilen könnten. Sogar der Scherzkeks, der die halbe Nacht lang mit seinen Witzen die Show stiehlt, ist nicht der fröhliche Welpe, der er zu sein scheint, sondern schon seit Jahren heimlich depressiv, so sehr, dass er ernsthaft erwägt, dem Ganzen ein Ende zu setzen, bevor er nächsten Monat fünfzig wird.
Keiner von ihnen hat einen sicheren Ort. Was sie haben, ist eine eingekapselte Scheißkonditionierung, die ihr Leben bestimmt, und sie finden keinen Ausweg. Und es ist ja auch schwer, ja nahezu unmöglich, auszubrechen. Nur indem man den Kokon mit aller Akribie von innen her durchleuchtet, kann es überhaupt gelingen. Indem man Licht in jede einzelne Folterkammer dort unten im Schlosskeller des Geistes bringt. Wie ein Detektiv, der einen Tatort des Grauens nach Hinweisen und Spuren untersucht in der Hoffnung, letztlich zu verstehen, was in Herrgotts Namen dort geschehen ist und wie genau es dazu kommen konnte.
Der Verstand muss rund um die Uhr überwacht, die emotionale Kettenreaktion, die jeder Gedanke nach sich zieht, nuanciert dechiffriert werden. Jeder Glaube muss als solcher entlarvt sein und jeder Identitätsknoten akribisch entwirrt. Der Körper muss wieder gespürt, seiner Führung wieder vertraut, die Präsenz größer, der Atem tiefer werden. Das Glashaus ums Herz muss zerbrochen, alle Gefangenen müssen aus dem Kerker der Seele befreit werden. Das Ego muss vom Opfer zum Angeklagten und vom Angeklagten zum Kronzeugen gemacht werden.
Du musst dir dein Vertrauen verdienen, willst du einmal sicher sein vor dir selbst. Das Blatt im Wind muss zu einem Stein werden, einem Auge vielmehr, das nicht schläft wie ein Stein, sondern wach ist als Stein, eisern im Willen, standhaft wider die Müdigkeit, standhaft und hart genug, um angesichts des nächsten Schlages mitten in deine Fresse nicht einmal zu blinzeln. Ganz gleich, ob der Schlag nun von innen her oder von außen kommt. Denn willst du je sicher sein, so muss dein endgültiges Urteil lauten, dass der Kokon abgestreift, dass das Ego aufgegeben werden muss. Dass alle Götter aufgegeben werden müssen. Dass alles und allem vergeben, dass jedes Verfahren abgewiesen und das Justizministerium in ein Museum umgewandelt werden muss, weil alles Wissen Irrtum ist und Leben im Kokon schlichtweg nicht lebenswert. Dies ist das Geburtsrecht, das du einfordern musst, willst du die Streicheleinheiten, den Cocktail, die Zigarette, deine eigenen Witze, dein Menschsein endlich genießen.
Ich war der Witzbold auf der Party. Der in der Ecke allein sein Bier trank, das war mein Freund aus Kindertagen, Alex, Anästhesist. Komplexe hatte er schon immer gehabt, aber es war schlimmer geworden mit den Jahren. Nur im Kittel machte er eine gute Figur, also malochte er mehr und mehr. Die junge Frau war Mila, meine Partnerin. Als Kind war sie Kunstturnerin gewesen, ziemlich erfolgreich sogar, Umzug ins Frankfurter Leistungszentrum schon mit zwölf. Und mit dreizehn bulimisch. Am Morgen nach der Party war ihre obere Speiseröhre wieder entzündet einschließlich der Stimmbänder, offenbar war sie angetrunken etwas unachtsam gewesen und hatte mit dem Fingernagel alte Wunden im Rachen aufgekratzt. Und so ließ sie sich wieder einmal in eine Spezialklinik einweisen, diesmal im Schwarzwald.
Ich war froh, die Fünfzig wollte ich ohnehin alleine feiern. Was heißt feiern – umbringen wollte ich mich um kurz vor zwölf. Was du mit fünfzig noch nicht vorzuweisen hast, das wird auch nichts mehr, so glaubte ich damals. Andere hatten ihre Ehen geschlossen und Kinder geboren und Titel errungen und Häuser gebaut, ich saß den ganzen Tag lang vor einem Haufen unbrauchbarer Notizen, während meine Freundin sich neben mir im Bett zu Tode hungerte oder in irgendeiner Klinik abhing. Überdies war mir in der Woche vor der Party ein Brief der Immobiliengesellschaft ins Haus geflogen, die meine Mietswohnung gekauft hatte, mit der Ankündigung, dass auch bei mir im Dachgeschoss nun eine Heizung eingebaut werde, und zwar schon im Oktober, woraufhin die Miete um 18,5 Prozent steigen werde – pro Jahr!
63 Euro mehr im Monat konnte ich unmöglich aufbringen. Zumal ich zu stolz war, um vom Amt zu leben oder Alex anzuhauen, mir mehr Geld zu pumpen. Mein Dasein war ja von außen gesehen sowieso schon lange nicht mehr zu rechtfertigen, ich sah es selbst ein. Bücher zu schreiben, die niemand liest, ist ja kein Mehrwert, sondern ein Unwert. Verschwendete Zeit. Weggeworfenes Leben. Bäume seien Gedichte, die die Erde in den Himmel schreibe, und wir fällten sie und verwandelten sie in Papier, um unsere Leere darauf auszudrücken, sagte Khalil Gibran einmal. Und schrieb nach einer kurzen Kaffeepause weiter. Und ich verstehe es, auch wenn es keinen Sinn ergibt. Ich kann es auch nicht lassen. Es ist wie ein Zwang, eine unbedingte, innere Notwendigkeit. Ein verzweifeltes, euphorisches Aufbäumen ist es, ein trotziger, stolzer Freiheitsschrei, ein mächtiger, ohnmächtiger Fluss ins Nirgendwo.
Aus dieser Einsicht, diesem Schrei, diesem Fluss heraus und aus Prinzip – schließlich wollte ich gar keine scheiß Heizung in meiner Wohnung, sondern den Winter lang frieren zum Schreiben, zum Leben – kündigte ich noch im Sommer meine Wohnung, verkaufte die Einrichtung und flog von dem Geld nach Bangkok, um mich dort vom höchsten Wolkenkratzer in die andere Freiheit zu stürzen. Der innere Kokon ist die eine Sache. Die äußere Zwangsjacke die andere. Auf der Haut des Menschen wachsen sie zusammen. Das macht die Haut ja so hart. Und das Leben so schwer. Und den Sprung so verführerisch.
Anders als die Natur produziert die kollektive Dystopie ja unablässig Müll: Teile der Natur, die sie gebraucht hat und nun eben nicht mehr braucht und in die Tonne kloppt. Das Pferd zum Beispiel, das beim Schlachter landet, weil es zu alt ist, um die Kutsche zu ziehen. Oder die Plastiktüte, die aus natürlichen Molekülen synthetisiert, verkauft, gebraucht und schließlich weggeworfen wird. Oder eben der Mensch, der entsorgt wird. In der Nervenheilanstalt zum Beispiel. Im Altersheim. Im Gefängnis. Oder unter der Brücke. Mancher wird nie gebraucht und gleich als nutzlos deklariert und in die Tonne gekloppt. Andere wehren sich zu sehr, verweigern ein Dasein als Werkzeug des Irrsinns. Hier kreuzen sich Hamsuns und Dostojewskis Wege. Der eine wurde auf ein Schiff, der andere nach Sibirien verbannt.
Aber die Mülldeponie ist ja in erster Linie kein Ort, jedenfalls kein räumlicher. Sie ist eine Ebene des kollektiven Bewusstseins, ein Raum im Geist der Dystopie. Hier, in diesem Geistesraum, habe ich Hamsun und Dostojewski kennen– und lieben gelernt, hier bin ich Nietzsche begegnet und seinem zu Tode gepeitschten Pferd. Wir verstehen uns hier nicht als Gefangene, wir sind alle freiwillig hier, obwohl einige das noch nicht wissen. Wir sind hier, weil es der einzige Raum innerhalb der kollektiven Wirklichkeit ist, in dem wir noch frei sind.
Nur hier, in ihrem entsorgten Müll, lebt noch die Hoffnung, dass die Menschheit einmal blüht. Hier hänge ich gemeinsam mit dem Meister von St. Petersburg an Coetzees Glocke von Sergejew, die, obwohl sie einen großen Riss aufweist – ein Schaden, der nicht mehr zu beheben ist – niemals ausgetauscht und eingegossen worden ist, sondern noch immer jeden Tag vom Kloster her über der Stadt erklingt und von den Menschen liebevoll „Das hölzerne Bein des heiligen Sergius“ genannt wird. Auf dem höchsten Wolkenkratzer Bangkoks stehe ich und hänge an der Glocke von Sergejew und schwinge sachte hin- und wieder her, hier im Licht der Welt erscheinend, dort im Riss durch die Welt verschwindend. Endloser Fall ohne Aufprall. Dantes göttliche Komödie ohne Schwerkraft. Meister Eckharts ewige Geburt.
Wir geben nichts und niemanden auf hier im Raum der Entsorgten. Genau darum lebt ja hier noch die Hoffnung, dass die Menschenwelt einmal blüht. Die Nutzlosigkeit reicht hier nicht her. Was hier lebt, das ist vom Nutzenmüssen befreit. Als nutzlos wurde es nur dort erachtet, wo es Nützlichkeit, wo es Ausnutzung gab. Solange es ausgenutzt wurde, solange musste es bleiben, was es war in seiner Nützlichkeit. Erst hier, wo es nicht mehr benutzt wird, ist es frei, zu werden, was es nie gewesen ist.
Es ist der Preis der Freiheit, dieses Hängen im Riss durch den Wahnsinn der Normalität. Ein Radwerk ist die Normalität, das dich erbarmungslos zermalmt, weil es dafür erschaffen wurde, dich zu zermalmen, weil es sein Nutzen ist, sich die Natur, sich die Menschen Untertan zu machen und damit alles wahre Leben zu vernichten. Da kann die Gesellschaft noch so sorgsam jede Spur ihres Wahnsinns verbrennen und noch so tief ins Gestein bohren, um dort, in tiefster Finsternis, endzulagern, was sie vergessen und nie wiedersehen will – sie kann längst nicht mehr verbergen, was sie an toxischer Ödnis, an Wüsten der Zerstörung schafft. Auch an Menschen. Auch im Menschen. Was die Gesellschaft entsorgt, eben das enthüllt sie. Derweil ist das Entsorgte von ihr gereinigt – und damit endlich frei, aus sich selbst heraus zu leben und zu wachsen als Natur – und aufzublühen als menschliche Kultur.
Hier in Kambodscha, in der abgehängten, in der dritten Welt, quaken die Frösche noch zu jedem Regen, und wenn es gewittert, dann fällt stundenlang der Strom aus. Über meinem Bett hängt tagsüber die Fledermaus, und die Wespe baut jedes Jahr eine neue Bruthöhle aus Lehm an meine Badezimmerwand. Es kümmert sie auch nicht, wenn ich währenddessen rauchend auf dem Plumpsklo sitze. Ein Tier, das dir vertraut, das ist der Klang der Glocke von Sergejew. Es tut mir leid um die Menschen, die ihn nicht hören. Es tut mir leid um all die ungeschriebenen Gedichte, um all die Horizonte, die sich niemals auftaten.
Gleichzeitig bin ich dankbar. Dankbar, dass ich keine Heizung wollte. Dass die Menschheit mich entsorgt hat. Dass sich die Kluft auftat, in die ich fallen konnte, in der ich seither leben darf als Riss durch mich selbst. Vorher war es kaum zu ertragen mit mir, ein Albtraum war es, ein Albtraum war ich, ein Blatt im Wind, ein verzweifelter Clown in seiner verhärteten Schlangenhaut, durchs Leben gehetzt vom ständigen Wunsch, zu gefallen, der ständigen Angst, zu versagen, vom Räderwerk zerschmettert, in Hohn und Spott vom Hof gejagt zu werden als König ohne Kleider. Als es dann geschehen war, da war es nicht mehr schlimm. Da war das Fallen ein Fliegen. Und meine Wurzeln fanden erstmals festen Boden.
Wie einfach Leben ist, das lehrt dich nur die Schule des Lebens selbst. Wenn die Hunde unten auf der Straße heulen, dann heulen wir mit. Wenn drei Meter weiter das Gewitter einschlägt, dann pochen unsere Herzen vor Angst und werden ganz klein und hoffen ganz leise, dieses eine Mal noch davonzukommen mit dem ach so gebrechlichen, bedeutungslosen Leben. Und wenn danach die Sonne wieder scheint, dann hüpfen wir ins nasse Gras.
Nur auf fremde Menschen, die zu nahe kommen, reagieren wir allergisch. Ein Rest von Schlangenhaut ist eben immer da, wächst eben immer nach. Aber weich, fast flauschig, fast wie Hundefell. Wir bellen nur und beißen nicht. Wobei das Bellen ja nicht ganz unbegründet ist. Es ist ja nicht vergleichbar mit der Panik unserer neuen Mitbewohnerin vor dem alten gelben Besen, die monatelang so groß war, dass sie sofort aus dem Haus floh, sobald ich den Besen auch nur in die Hand nahm. Erinnerte Schläge mit dem Stock, wie ich vermute.
Als Rudel fürchten wir den Stock nicht, sondern haben Angst vor dem Schläger, wo Menschen sich nähern. Wir bellen wider den Wahnsinn hinter dem Zaun. Ein Auge bleibt daher immer offen, wie müde wir auch sind. Denn während wir hier bloß spielen, wartet vor dem Tor der blanke Ernst. Kinder warten dort, die nicht gekommen sind, um mit uns Sandburgen zu bauen, sondern Cowboy und Indianer spielen – aber mit echten Waffen.
Das ist der Wahnsinn. Was mir längst Museum ist, verblassende Erinnerung an dystopische Bewusstseinsräume, das ist dort draußen Wirklichkeit. Der sichere Ort für die Hunde reicht nur bis zum Zaun. Und selbst das nur durch unsere Präsenz. Und während ich über meinen Notizen sitze und die Lesebrille suche und Mila drüben in ihrem Häuschen bunte Schmetterlinge an die Wände malt und dazu Lieder von der Liebe singt, verdunkelt der Kokon der Menschheit den Rest der Welt. Es muss wohl so sein, sonst wäre es nicht. Schade ist es zwar. Aber schlimm ist es nicht. Es ist alles gut. Samsara ist Nirvana. Soviel darf ich sagen als nutzloser Narr.
Verlierer-Beitrag zum Walter-Serner-Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema “Wendepunkte”
Est ubi gloria nunc Babylonia? von Umberto Eco
in “Der Name der Rose”
Est ubi gloria nunc Babylonia? (Wo ist nun Babylons Ruhm?) Wo ist der Schnee vom vorigen Jahr? Die Welt tanzt den schaurigen Tanz des Macabré, mich dünkt zuweilen, die Donau sei voller Narrenschiffe auf der Fahrt in ein dunkles Land.
Mir bleibt nur zu schweigen. O quam salubre, quam iu cundum et suave est sedere in solitudine et tacere et loqui cum Deo! (Oh, wie heilsam, wie erfreulich und süß ist es, in der Einsamkeit zu sitzen und zu schweigen und mit Gott zu reden!)
Bald schon werde ich wiedervereint sein mit meinem Ursprung, und ich glaube nicht mehr, daß es der Gott der Herrlichkeit ist, von welchem mir die Äbte meines Ordens erzählten, auch nicht der Gott der Freude, wie einst die Minderen Brüder glaubten, vielleicht nicht einmal der Gott der Barmherzigkeit. Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier….
Ich werde rasch vordringen in jene allerweiteste, allerebenste und unermessliche Einöde, in welcher der wahrhaft fromme Geist so selig vergehet. Ich werde versinken in der göttlichen Finsternis, in ein Stillschweigen und unaussprechliches Einswerden, und in diesem Versinken wird verloren sein alles Gleich und Ungleich, in diesem Abgrund wird auch mein Geist sich verlieren und nichts mehr wissen von Gott noch von sich selbst noch von Gleich und Ungleich noch von nichts gar nichts. Und ausgelöscht sein werden alle Unterschiede, ich werde eingehen in den einfältigen Grund, in die stille Wüste, in jenes Innerste, da niemand heimisch ist. Ich werde eintauchen in die wüste und öde Gottheit, darinnen ist weder Werk noch Bild…
Kalt ist’s im Skriptorium, der Daumen schmerzt mich. Ich gehe und hinterlasse dies Schreiben, ich weiß nicht, für wen, ich weiß auch nicht mehr, worüber: Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus. (Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen.)
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