Zum Rollenspiel geboren von Robert M., Phnom Penh

Jeder von uns ist dazu geboren, seine Rolle zu spielen.
Manchen wird ihre Rolle gleich zu Beginn offenbart, während andere sie geheim halten und sorgfältig verbergen – und warten müssen, bis sie enthüllt wird.

Manche Schauspieler sind für Hauptrollen prädestiniert, andere werden nur als Nebendarsteller engagiert – gemeinsam dazu aufgerufen, ein Publikum zu unterhalten, das den voyeuristischen Zuschauer spielen soll.
Und wer kann schon zuverlässig dazu aufgerufen werden, zu klatschen und zu jubeln, zu jammern und zu heulen oder zu zischen und zu buhen, wenn er dazu aufgefordert wird, pflichtbewusst aufs Stichwort zu reagieren?

Eine Vielzahl von Schauspielern wurde engagiert, um die Bandbreite menschlicher Emotionen zu zeigen –
von den Erhebenden und Erhabenen bis hin zu allem Tierischen und Abscheulichsten.
Die gespielten Rollen können ein Leben lang dauern und abenteuerlich dramatisch oder tragisch-erbärmlich sein, flüchtig heroisch oder unscheinbar banal, und am Ende wird der Schauspieler hastig von der Bühne geworfen.

Bedenke jedoch, dass nur wenige Privilegierte gelobt und mit dauerhaftem Ruhm bedacht werden – weit übertroffen von denen, die unbeachtet bleiben und denen nicht einmal die geringste Anerkennung zuteilwird.

Sind unsere Rollen im Drehbuch vorherbestimmt, oder wurde dem freien Willen und dem Zufall eine Rolle zugesprochen?

Wurde diese Produktion aufwendig inszeniert, auf dass sie auf Ewigkeit besteht – zur Qual und gleichsam zur Unterhaltung? Und wenn ja, wer inszeniert sie, für wen ist sie letztlich bestimmt?

Wenn die Darsteller ihren letzten Vorhang nehmen,werden dann die Kritiker der Geschichte einberufen und beauftragt, willkürlich zu entscheiden – wer es verdient, gefeiert und vergöttert zu werden und wer verunglimpft und dämonisiert?

Sei gewarnt: Der Ruf eines Künstlers kann sich sehr schnell ändern. Denkmäler können später verunstaltet werden,
Lobeshymnen in Diffamationen ausarten. Und was Tostoi betrifft, der diese Tatsache lamentierte: Erst wenn Geschichte auch diese Facetten betreffend wahrheitsgetreu abgebildet wird, erst dann kann das ewige Buch als wirklich bedeutsam – und wahrhaft wunderbar – erachtet werden.


Die Fahne schwenkt in Gaza von Solange Linhares, Brasilien

Die Fahne schwenkt in Gaza, demokratisch
der Mut schwankt leer, humanitär
die Totenglocke schwingt umsonst, im Namen der Zivilisation

Schwebend schwingen ohne Ziel, aber mit besten Absichten
schwankend klingen ohne Sinn, doch juristisch einwandfrei

Er wankt durchs Ghetto, zur Sicherheit evakuiert
doch will nicht schwanken, bleibt standhaft gläubig, vergebens

Links schwenken für die Unterdrückten
rechts schwanken für die Ordnung
in der Mitte einschwenken für den Konsens, ohne Halt
Linksaußen kompromisslos, rechtsaußen identitär
beide ins Leere, beide im Recht
liberal bleibt die Debatte, ausgewogen und folgenlos

Rot geschwenkt für die Arbeiterklasse
braun geschwankt für das Vaterland
grau geschwungen für die Vernunft
alle verblassen, alle gut gemeint
Das Brot, das Schwert, das Gold, alle versprochen
die rote Fahne, die schwarze Erde, beide verstummt

Alles zerfällt
alles dokumentiert

Die Kerze geschwenkt beim Schwanken
die Betroffenheit zur Akte gelegt
die Finsternis bleibt, das Gewissen ist rein

Militant schwenken, legitime Selbstverteidigung
pazifistisch schwanken, gewaltfreier Widerstand
die Totenglocke schwingt umsonst, die Absicht war legitim

Verhandeln, gegenverhandeln, bis zum Sturz
die Gespräche waren konstruktiv, die Protokolle vollständig

Schwingend klingt das Nichts, arrangiert und archiviert
schwebend singt der Tod, gefilmt und dokumentiert

Geschwebt wie Rauch über Warschau, akzeptabler Kollateralschaden
geschwungen wie Wind über Gaza, unvermeidliche Eskalation
beide vergänglich, beide statistisch erfasst

Freiheit erschwinglich für die Reichen
Gerechtigkeit unerschwinglich für die Armen
alle käuflich, alle im Angebot

Gestern schwungvoll, heute schwunglos
nie schwunghaft, nur Verfall
jeder Moment katalogisiert, jede Sekunde dokumentiert

Schwingungsfrei
bleibt die Stille des Todes

Verschwenkt die Perspektive, die Geschichte umgeschrieben
herumgeschwenkt im Wahn, die Wahrheit verschoben
der Kompass zerbrochen, die Karte aktualisiert, alles notiert

Von Warschau bis Gaza:
rot, braun, grau, alle erprobt
sozialistisch, faschistisch, kapitalistisch, alle gescheitert
alles schwingt, schwankt, schwebt
ins Nichts

Die Akten sind vollständig
Die Leichen gezählt
Die Fahne schwenkt weiter

Alles dokumentiert 


aus, ab, um, auf, mit: Eine Ontologie in fünf Präfixen von Solange Linhares, Brasilien

PROLOG

Am Anfang: nicht das Wort. 
Das Präfix.

Bevor Gott sprach: Es werde! 
wusste er: Wohin?

Herein? Hinaus? Hinauf? Herab?

Axiom: 
Die Richtung ist älter als das Ding. 
Jede Richtung ist auch eine Flucht.

Tritt ein —

AUS
Vom Sein zum Nichtsein

Am Anfang war das Wort, 
am Ende bleibt nur Aus.

Was gefüllt wurde, wird ausgeleert, 
was gebaut wurde, wird abgetragen, 
was gesprochen wurde, verhallt.

Ausgebeutet wie eine verlassene Mine, 
wo Schächte ins Nichts führen, 
nur Dunkelheit, die sich selbst verschlingt.

Ausgehöhlt von innen — 
ein Gesicht, das nur noch Maske ist, 
ein Haus, in dem die Uhr leere Stunden zählt.

Ausgezehrt von einem Gast, der nie weicht, 
der langsam frisst, 
der alle Zeit hat.

Der Arbeiter: ausgebeutet, 
die Erde: ausgelaugt, 
der Körper: ausgemergelt, 
die Seele: ausgehöhlt, 
das Leben: ausgezehrt.

Gewinn steigt — Substanz sinkt — Sein schwindet.

Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren — 
doch sie versuchen trotzdem zu nehmen.

Sie graben im Nichts nach Nichts. 
Sie füllen Säcke mit Leere. 
Sie wiegen das Unsichtbare auf präzisen Waagen.

Am Ende des Tages: 
ein Protokoll über die erfolgreiche Extraktion von Null.

Unterschrift. Stempel. Ablage.

Morgen wird wieder gegraben.

Aber:

Je voller das Leben, desto schneller ausgelebt, 
je heller man brennt, desto rascher ausgebrannt, 
je tiefer man liebt, desto gründlicher ausgezehrt.

Was nie benutzt wird, wird nie ausgenutzt, 
was nie geliebt wird, wird nie ausgezehrt — 
aber was nie aus ist, war nie wirklich an.

Leben heißt: das Risiko des Aus zu tragen.

Oder: das Aus hinauszuzögern. 
Oder: das Aus nicht zu bemerken.

Schwer zu sagen.

Manchmal ist Aus der Anfang von Frei:

Ausbrechen aus dem Käfig, 
aussteigen aus dem System, 
ausatmen nach langem Halten.

Selten genug.

Meistens ist Aus nur Aus.

Sein beginnt mit Ein — hinein, herein, 
Sein endet mit Aus — hinaus, heraus.

Dazwischen: das Leben, 
ein Atmen zwischen Ein und Aus, 
ein Herzschlag zwischen Sein und Nichts.

Nach all dem Aus kommt Stille — 
nicht die Stille vor dem Sturm, 
sondern die Stille nach dem Sturm.

Die Stille, die bleibt, wenn nichts mehr kommt.

Dann bleibt nur noch das Wort selbst:

Aus.

Kurz. 
Endgültig. 
Vollständig.

Ein Wort wie eine Tür ohne Raum dahinter.

Man öffnet sie trotzdem. 
Aus Gewohnheit.

AB
Vom Ganzen zum Fragment

Am Anfang war die Verbindung, 
am Ende bleibt nur Ab.

Was zusammen war, wird abgetrennt, 
was gewachsen war, wird abgeschnitten, 
was gehörte, wird abgenommen.

Abgerissen wie ein Bild im Regen — 
Fetzen an der Wand, 
nur Leim und Farbspuren.

Abgebrochen wie ein Ast im Sturm, 
die Wunde am Stamm noch frisch, 
Harz, das nicht heilen kann.

Was einmal wuchs, wächst nicht zurück.

Abgetrennt wie eine Insel, 
die einst Festland war, 
nun nur Meer und Horizont.

Die Freundschaft: abgekühlt, 
die Liebe: abgebrochen, 
das Vertrauen: abhandengekommen, 
das Band: abgerissen.

Beziehungen werden zu Protokollen, 
Menschen zu Fremden, 
Nähe zu Distanz.

Nähe sinkt — Distanz steigt — Bindung schwindet.

Wo nichts mehr verbindet, ist jeder allein — 
doch sie trennen trotzdem weiter, 
vom Getrennten noch Trennung zu schaffen, 
vom Einzelnen noch Einsamkeit zu extrahieren.

Aber manchmal:

Abwerfen, was beschwert, 
ablegen, was nicht passt, 
abschütteln, was fesselt —

dann ist Ab der Anfang von Frei.

Selten. 
Aber manchmal.

Was bleibt, wenn alles ab ist?

Die Narbe ohne Heilung, 
der Stumpf ohne Glied — 
nur das Echo der Verbindung.

Ab.

Ein Wort wie eine Schere, die niemals schließt.

UM
Vom Sein zum Werden

Am Anfang war die Form, 
am Ende ist das Um.

Was war, wird umgewandelt, 
was stand, wird umgeworfen, 
was galt, wird umgedeutet.

Umgekehrt wie ein Handschuh — 
das Innere wird außen, 
das Außen wird innen.

Umgedreht wie eine Sanduhr, 
wenn die Zeit neu beginnt, 
aber mit demselben Sand.

Ein Thron, umgeworfen — 
gestern noch Macht, 
heute Splitter, die niemand aufhebt.

Die Gewissheit: umgestoßen, 
die Wahrheit: umgedeutet, 
die Ordnung: umgeworfen, 
das Selbst: umgewandelt.

Systeme werden zu Fragen, 
Wahrheiten zu Perspektiven, 
Sein zu Werden.

Stabilität sinkt — Fluss steigt — Form schwindet.

Wo alles fließt, gibt es keinen Halt — 
doch sie wandeln trotzdem weiter, 
vom Gewandelten noch Wandel zu schaffen.

Umkehr: der Weg führt zurück, 
Umsturz: das Oben wird unten, 
Umbruch: das Alte bricht auf.

Und in der Mitte des Drehens 
hörte ich auf zu fragen, wohin, 
und begann zu fragen: Warum nicht?

Die Antwort drehte sich mit.

Ein Wort wie eine Tür, die sich dreht. 
Und dreht. 
Und dreht.

Sisyphos fragte: Wohin führt sie? 
Die Tür antwortete nicht. 
Sie drehte sich weiter.

Sisyphos trat ein.
Die Tür drehte sich.
Er stand wieder draußen.
Sisyphos trat ein.
Die Tür drehte sich.
Er stand wieder draußen.

Am dritten Tag hörte er auf zu fragen. 
Am siebten Tag begann er zu lachen.

Die Tür drehte sich weiter.

Wer hindurchgeht, 
ist nicht mehr derselbe.

Aber wer ist schon derselbe?

Um.

AUF
Vom Unten zum Oben

Am Anfang war die Schwere, 
am Ende ist das Auf.

Was lag, wird aufgehoben, 
was schlief, wird aufgeweckt, 
was verschlossen war, wird aufgemacht.

Aufgerichtet wie ein Baum nach dem Sturm, 
Wurzeln, die wieder greifen, 
Äste, die wieder streben.

Aufgewacht wie ein Samen im März, 
der die Erde durchbricht — 
eine Welt, die neu beginnt.

Aufgebrochen wie Eis im Frühling, 
wenn das Gefrorene schmilzt 
und Wasser wieder fließt.

Wo gestern Ruinen standen, heute Baustellen, 
wo gestern Schweigen herrschte, heute Stimmen, 
wo gestern Dunkelheit lag, heute Licht.

Schwere sinkt — Leichtigkeit steigt — Sein erhebt sich.

Aufstehen nach jedem Fall, 
aufbauen nach jeder Zerstörung, 
aufbrechen nach jeder Stagnation.

Was bleibt, wenn alles auf ist?

Nicht die Schwere, 
nicht das Unten, 
sondern die Bewegung nach oben — 
nur das Echo der Erhebung.

Auf.

Ein Wort wie eine Leiter ohne Ende.

Und wer steigt, findet immer eine nächste Sprosse.

Oder glaubt, sie zu finden.

MIT
Vom Ich zum Wir

Am Anfang war die Trennung, 
am Ende ist das Mit.

Was allein war, wird mitgeteilt, 
was getrennt war, wird miteinander, 
was verschlossen war, wird mitgegeben.

Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen — 
das Sprichwort kennt die Wahrheit:

Wer mitgeht, trägt mit; 
wer mitfühlt, leidet mit; 
und wer mitschweigt, schuldet mit.

Mitgefühlt wie ein Herz, das versteht, 
ohne dass Worte nötig sind — 
nur Präsenz, nur Atem.

Mitgetragen wie eine Last zu zweit, 
die allein zu schwer wäre, 
gemeinsam nur halb so schwer.

Mitgeteilt wie Brot am Tisch, 
wo einer gibt und einer nimmt, 
und beide satt werden.

Aber:

Mitschuld ist auch Schuld. 
Mitläufer sind auch Läufer. 
Mittäter sind auch Täter.

Das Sprichwort vergisst zu sagen: 
manchmal muss man nicht mitgehen.

Doch wer wählt schon allein?

Mitgehen, wenn der Weg schwer ist — 
aber wohin führt der Weg?

Mitfühlen, wenn das Herz bricht — 
aber wessen Herz bricht zuerst?

Mitsein, wenn die Nacht kommt — 
aber wer entscheidet, wer bleibt?

Was bleibt, wenn alles mit ist?

Nicht das Ich, 
nicht das Du, 
sondern das Wir — 
nur das Echo der Gemeinschaft.

Trennung sinkt — Verbindung steigt — Sein wird gemeinsam.

Mit.

Ein Wort wie eine Hand: 
sie kann schlagen, 
sie kann halten.

Wer sie nimmt, ist nicht mehr allein.

Aber auch nie wieder ganz frei.

Zwei Gefangene in derselben Zelle. 
Oder zwei Tänzer auf demselben Schiff.

Das Schiff sinkt. 
Sie tanzen weiter.

EPILOG

Gott sprach: Es werde! 
Der Mensch antwortet:

Aus — es ist vorbei. 
Ab — ich trenne mich. 
Um — ich verwandle mich. 
Auf — ich erhebe mich. 
Mit — ich bin nicht allein.

Gott schweigt.

Der Mensch wartet auf Antwort. 
Gott schweigt weiter.

Der Mensch fragt: Hörst du zu? 
Gott schweigt.

Der Mensch fragt: Bist du da? 
Gott schweigt.

Der Mensch fragt: Gibt es dich überhaupt?

Stille.

Dann, nach langer Zeit, 
hört der Mensch ein Geräusch.

Es ist das Echo seiner eigenen Stimme.

Er lacht. 
Oder weint. 
Beides vielleicht.

Fünf Präfixe. 
Fünf Richtungen. 
Fünf Arten, in der Welt zu sein.

Am Anfang war nicht das Wort. 
Am Anfang war die Bewegung.

Und die Bewegung geht weiter.

Wohin?

Nirgendwohin. 
Überallhin. 
Egal.

Die Bewegung geht weiter. 


Mauern von Maria, Hagen/Westfalen

Das Leben aufbauen
mühsam
Stein für Stein

Gegen Mauern rennen
ein Leben lang


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