Freie Radikale entstehen zwar in jeder Menschenzelle, sind und bleiben aber unsere Feinde, vor denen wir unsere Körper durch Antioxidantien schützen müssen. Die einfache Küche hält diverse antioxidante Rezepte bereit, die eben diesem Zwecke dienen. Auch für den süßen Gaumen. Doch damit allein ist es nicht getan. Es gilt auch, schädliche Einflüsse von außen im Zaum zu halten. Zu den schädlichen externen Faktoren gehören bekanntermaßen nicht nur Zigaretten und Alkohol, sondern auch Sonneneinstrahlung und Hitze. Hier sind also Verzicht und Mäßigung angesagt, denn eine gesunde Seele wohnt in einem gesunden Körper. Genaue Informationen zur Studienlage hinsichtlich der Helfer gegen freie Radikale bietet wie immer die Verbraucherzentrale.
Ich bin Kettenraucher und Säufer und lebe in den Tropen. Ich habe keine Freunde, geschweige denn Leser oder Schüler. Ich gehöre auch keiner Gruppe an, vertrete keinen Glauben, keine Ideologie, bekenne mich zu keiner Nation, als Bastard habe ich nicht einmal eine kontinentale Identität. Mensch, okay, aber mit Haken und Ösen. Als gequälter Furz. Ich weiß nicht, in welchem Maße diese Entwicklung psychopathologischer Natur ist und zu welchem Grad sie spirituell bedingt ist. Ich weiß auch nicht, inwiefern diese beiden Faktoren zusammenhängen. Vielleicht wachsen wir ja immer in zwei Richtungen. Jedenfalls haben meine radikalen Erkenntnisse hinsichtlich der Natur des Bewusstseins nicht gerade dazu beigetragen, die zwischenmenschlichen Wogen zu glätten. Meine innere Haltung zum Menschsein ist auch nicht gerade gereift, jedenfalls nicht zur Dankbarkeit hin. Die Zumutung ist nur insofern kleiner geworden, als das Dasein als Traum erkannt ist. Dadurch ist der psychisch-seelische Druck, den die Spirale der Selbstbezichtigung verursacht, verschwunden. Aber auch alle Hoffnung, das Versprechen. Ein natürliches Maß an Wunsch nach Verbundenheit, nach gemeinsamem Fluss, nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, ist geblieben. Der wesentliche Motor zwischenmenschlicher Dynamik hat aber ein für alle Mal den Geist aufgegeben.
Mir ist vollkommen bewusst, dass es keine Sau interessiert, was ich denke oder fühle oder bin. Das Schreiben geht trotzdem weiter. Und wie unschwer zu erkennen ist, bewegt es sich nicht zurück zur Menschheit hin, sondern immer tiefer in die Radikalität hinein. Was daran liegt, dass ich mich nicht als Mensch für mein Menschsein interessiere, sondern als frei umherfliegendes Radikal, das Mensch zu sein träumt. Radikale sind unter den Menschen ja verpönt, eben weil sie frei umherfliegen. Was dem Radikal Losgelöstheit ist, das ist dem Menschen Haltlosigkeit. Deswegen ist dem Menschen die Schwerelosigkeit ja unerträglich und all sein Gefasel von Freiheit ein Witz. Freiheit ist das Letzte, was der Mensch will. Der Motor des Menschen ist ja gerade die Bewegung fort von sich als Radikal. Menschen sind schließlich chemische Wesen und existieren, wenn überhaupt, hier und da mal eine Sekunden lang als Radikale, ehe sie Bindungen eingehen und als Radikale in den Bindungen verschwinden.
Eigentlich. Denn die Natur kennt auch stabile Radikale. Im menschlichen Gefüge wären das die Erwachten. Und wie jeder Körper in der Natur mit zahlreichen Schutzmechanismen gegen die Wirkung freier Radikale daherkommt, so wehren sich die Menschen gegen die Erwachten, gegen das Erwachen. Natürlich nützt es letztlich nichts, aller gesunden Ernährung, allem Widerwillen gegen die Wahrheit zum Trotz. Irgendwann nehmen die freien Radikale überhand, und die gewonnene Stabilität geht flöten. Der Körper stirbt, der Mensch erwacht. Jene vermeintlich stabile Struktur hat sich als temporäre, als instabile Illusion erwiesen. Und das freie Radikal als die stabile Essenz.
Leider schütteln die Menschen ihren Suff und ihre Kippen in den Motor wider die Freiheit, statt sich bei Verbraucherzentralen wie dem Verlierer Verlag über die wahre Natur der Radikalität zu informieren. So verkommt der Rausch zu besagtem Kompensationsmechanismus, statt den Fall in besagte Haltlosigkeit zu erleichtern. Das Klammern an die instabile Illusion ist einfach Teil der Biochemie, der organisch-psychischen Grundstruktur des Menschen. Und zwar solange, bis sich der höhere Zweck der natürlichen Entstehung freier Radikale offenbart. Bis der vermeintliche Feind sich als Helfer höherer Ordnung entpuppt, bis der Mensch den Willen zur Selbsttäuschung überwindet und samt jenes Willens als chemischer Körper, als halluzinierender Mensch, als vereinzelte Seele — sprich, als gequälter Furz — in seiner Freiheit verschwindet. Das ist das stabile Radikal.
Bozo Brecht