Also sprach Uwe von Bozo Brecht
in “Negative Philosophie”

Also sprach Uwe:

Ich bin Uwe, Zerstörer aller Welten. Ich bin Shiva. Ein Dämon ist mir der Höhlenmensch, die Hölle ist mir seine Höhle. Ein Graus ist mir das Selbst des Menschen, ein Spuk ist mir die Menschenwelt. Ein Spuk entstellter Wesen, ein Graus entzweiter Geister, eine blinde Höllenfahrt zum Ende hin, das nötig ist, wo das Unnötige wuchert.

Der Höhlenmensch, er müsste nur die Augen öffnen, um die Höllenfahrt selbst zu beenden. Doch weigert er sich, er will sich nicht das Ende sein. Ewig weiterfahren will er, weiter fort von sich selbst, weiter fort von seinem Ende, das ja nur sein neuer Anfang wäre, seine Wirklichkeit jenseits der Höhle, jenseits der Täuschung, die als Welt er gebaut.

Ein Theater ist seine Welt, eine Bühne seine Höhle. Inszenierung ist, was er ein Leben nennt. Ein Kult ist die Menschheit, eine Sekte, die den Austritt mit dem Tod bestraft, eine Verschwörung wider den Geist des Ganzen, wider das wahre Leben, wider das Sein jenseits der Täuschung, wider das Ende des Menschen, wider das Ende der Lügen.

Ich bin Shiva, ich bin dieses Ende. Dafür hasst Ihr mich. Und Euer gemeinsamer Hass auf mich, er stärkt Euren Kult, er zementiert noch den Wahn Eurer Angst. Worauf sonst sind denn Höllen gebaut? Bühnen für Narren sind alle Höllen, Krebsgeschwüre des Unnötigen, das sich als Lüge erhält, indem es die Wahrheit bekämpft. Blind bleibt der Wille, weil er nicht sehen will, dass er die Lüge will.

Ich bin Uwe, der große Zerstörer. Ich will nicht leben unter Euch, will nichts mehr sehen von Euren Höhlen, von Euren Bühnen, von Eurem Spuk, von Eurem Kult. Das Theater um Hoffnung und Angst, Euch ist es Nahrung, mir ist es Gift. Gift ist mir der Menschengeist, Krebsgeschwür der blinde Wille, beängstigend der Sektenkult. Euer Erhalt ist Euer Untergang. Mit Euch geht in mir unter, was ich nicht bin.

Guru und Anti-Guru sind eins. Es gibt Erleuchtung, und es gibt keine Erleuchtung. Es gibt einen Weg zur Wahrheit, und es gibt keinen Weg und keine Wahrheit. Wo alles verneint ist, ist die große Bejahung verwirklicht, denn es wurde die Verneinung ganz und gar bejaht. Das ist der Weg des Anti-Guru. Der Guru verwirklicht derweil die große Verneinung als Tanz der Bejahung. Tausend Wege zeigt er dir, die du zu gehen hast, tausend Arten, das Ziel zu verfehlen – bis du endlich aufgibst und dich niederlegst, bis du endlich als Weg und Wanderer verschwindest.

Ich bin Uwe, Tänzer um das Unzerstörbare. Meister bin ich, der stets falsche Wege zeigt. Denn eben dadurch, dass sie falsch sind, sind alle Wege richtig. Wo Kreise sich schließen, verschwinden sie. Wo ein Punkt sich selber findet, indem er erkennt, dass er sich stets nur verfehlt, da löst er sich auf. Der Guru ist das Wort, das weiß: Es wurde nie etwas gesagt. Der Anti-Guru ist das ungesagte Wort im selben Wissen.

Der Mensch ist das gesagte Wort, das nicht wissen will, dass nie etwas gesagt wurde, und folglich für wirklich hält, was nie gewesen ist. Die Menschheit ist die Sprache der willentlich Getäuschten. Zivilisation ist das Gesetzbuch eben dieses Willens. Tanz und Kult um das Unwirkliche ist sie, Kreis, der sich nicht schließen will, um den besagten Unwillen herum, als dessen Mittelpunkt sich aufzulösen und zu verschwinden.

Ständig neue Wege sucht der Mensch, ständig neue Ziele. Ständig neu erfindet sich die Sprache, doch stets bleibt jedes Wort ein Teil des Tanzes, Teil des Kultes, Teil des ungeschlossenen Kreises. Dass es so bleibt, das ist das eigentliche Ziel. Die Eigentlichkeit stets neu zu maskieren, das ist der Weg.

Ich bin Uwe, Dorn im Auge der Menschen. Als Zerstörer erwacht es sich leichter – doch es lebt sich schwerer unter den Schlafenden. Nur blinde Zerstörer sind der Zivilisation zuträglich. Denn sie tragen dazu bei, dass sich der Kreis nie schließt. Zum Dorn wird der Zerstörer erst als Anti-Guru. Nietzsches Pferd war nicht schnell genug. Zarathustra wurde das Maul gestopft. Wer befreien will, der landet hinter Gittern.

Das Wort, das sich erkennt, ist nicht mehr Teil der alten Sprache. Denn es ist ewig neu als Wort und damit Teil einer ewig neuen Sprache. Einer Zivilisation der Gurus, Anti-Gurus, Übermenschen. Neuer Tanz ist es auf den Gräbern der alten Götter, auf den Gräbern der alten Zeit. Ein ewiger Tanz im Kreis, der sich geschlossen hat, ist die ewig neue Sprache, um einen aufgelösten Mittelpunkt herum.

Und der Guru ist der Anti-Guru, und das gesagte ist das ungesagte Wort, und das Nie-Gewesen-Sein ist der aufgelöste Mittelpunkt der ewig neuen Sprache, des ewig neuen Kreises, der sich geschlossen hat. Die Angst ist tot, die Gitter sind verschwunden. Das Pferd grast friedlich in der Morgensonne. Zarathustra atmet endlich frei. Was Lehre war, ist endlich Leben.


DAS NEUE RUDEL von Basu Winter
in “Affe in Großformat”

Unsere jüngste Hündin wurde vor einem halben Jahr aus einem Zuhause hierhergebracht, in dem sie offensichtlich misshandelt worden war. So sehr, dass sie beschlossen hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Als sie hier ankam, hatte sie wochenlang nichts mehr gegessen. Sie war total abgemagert. Total abgemagert und völlig verängstigt. Wenn ich mich ihr näherte, rannte sie in Panik runter zum Tor und lief dann minutenlang den Zaun entlang. Wie ein wildes Pferd. Mehrmals nahm sie Reißaus. Aber sie kam immer nach einigen Stunden zurück. Irgendetwas sagte ihr vielleicht, dass ihre Angst nichts mit diesem Ort zu tun hatte.

Es dauerte einen Monat, bis sie sich soweit entspannt hatte, dass sie mit den anderen Hunden zu spielen begann. Und einen weiteren Monat, bis sie hier und da mit dem Schwanz wedelte, wenn sie mich sah. Und noch einen weiteren, bis sie zum ersten Mal auf mich zukam, um gestreichelt zu werden.

Mittlerweile ist sie ein ganz normaler, glücklicher Hund. Doch jedes Mal, wenn es Zeit für die langen Spaziergänge im Rudel ist, kommt sie nach nur fünf Minuten alleine zurück. Ich glaube, sie fürchtet um ihren sicheren Ort. Denn wenn sie zurückkommt, inspiziert sie aufgeregt jeden Raum im Haus und sogar den Garten, um sich zu vergewissern, ob alles noch so ist wie vor fünf Minuten, bevor sie sich neben mich legt und darauf wartet, dass die anderen nach Hause kommen.

Es berührt mich, das jeden Tag mitanzusehen. Und ich frage mich oft, wie viele Menschen einen sicheren Ort haben. Ich persönlich kenne keine Familie, die ihn bietet. Keine Freundschaft. Keine Ehe. Ich sehe nicht einmal, wie das Alleinleben einen sicheren Ort garantiert. Ganz im Gegenteil, es mag alles noch schlimmer machen, alles Drama in geistige Räume verlagern. Jetzt bist du sowohl Jäger als auch Gejagter. Angeklagter und Richter. Wächter und dein eigener Gefangener. Der Krampf verlagert sich einfach nach innen.

Ob jemand in einer missbräuchlichen Beziehung zu sich selbst steht, lässt sich ziemlich leicht erkennen. Es ist schwer zu beschreiben, aber es ist eine Art Abkapselung, die ganz automatisch abläuft. Der Mensch ist in seinem Kokon gefangen, während der Körper vor dir steht und mit dir spricht, als wäre er der Mensch. Dabei ist der Mensch gar nicht da. Er ist im Kokon, ja er ist der Kokon. Die junge Frau auf der Party zum Beispiel ist während des Gesprächs mit dir damit beschäftigt, sich zu dick zu fühlen und die Anzahl der Kalorien zu berechnen, die der Cocktail in ihrer Hand enthält. Und der Typ dort in der Ecke genießt nicht wirklich einfach nur allein sein Bier, sondern sucht die Umgebung nach Augen ab, die ihn verurteilen könnten. Sogar der Scherzkeks, der die halbe Nacht lang mit seinen Witzen die Show stiehlt, ist nicht der fröhliche Welpe, der er zu sein scheint, sondern schon seit Jahren heimlich depressiv, so sehr, dass er ernsthaft erwägt, dem Ganzen ein Ende zu setzen, bevor er nächsten Monat fünfzig wird.

Keiner von ihnen hat einen sicheren Ort. Was sie haben, ist eine eingekapselte Scheißkonditionierung, die ihr Leben bestimmt, und sie finden keinen Ausweg. Und es ist ja auch schwer, ja nahezu unmöglich, auszubrechen. Nur indem man den Kokon mit aller Akribie von innen her durchleuchtet, kann es überhaupt gelingen. Indem man Licht in jede einzelne Folterkammer dort unten im Schlosskeller des Geistes bringt. Wie ein Detektiv, der einen Tatort des Grauens nach Hinweisen und Spuren untersucht in der Hoffnung, letztlich zu verstehen, was in Herrgotts Namen dort geschehen ist und wie genau es dazu kommen konnte.

Der Verstand muss rund um die Uhr überwacht, die emotionale Kettenreaktion, die jeder Gedanke nach sich zieht, nuanciert dechiffriert werden. Jeder Glaube muss als solcher entlarvt sein und jeder Identitätsknoten akribisch entwirrt. Der Körper muss wieder gespürt, seiner Führung wieder vertraut, die Präsenz größer, der Atem tiefer werden. Das Glashaus ums Herz muss zerbrochen, alle Gefangenen müssen aus dem Kerker der Seele befreit werden. Das Ego muss vom Opfer zum Angeklagten und vom Angeklagten zum Kronzeugen gemacht werden.

Du musst dir dein Vertrauen verdienen, willst du einmal sicher sein vor dir selbst. Das Blatt im Wind muss zu einem Stein werden, einem Auge vielmehr, das nicht schläft wie ein Stein, sondern wach ist als Stein, eisern im Willen, standhaft wider die Müdigkeit, standhaft und hart genug, um angesichts des nächsten Schlages mitten in deine Fresse nicht einmal zu blinzeln. Ganz gleich, ob der Schlag nun von innen her oder von außen kommt. Denn willst du je sicher sein, so muss dein endgültiges Urteil lauten, dass der Kokon abgestreift, dass das Ego aufgegeben werden muss. Dass alle Götter aufgegeben werden müssen. Dass alles und allem vergeben, dass jedes Verfahren abgewiesen und das Justizministerium in ein Museum umgewandelt werden muss, weil alles Wissen Irrtum ist und Leben im Kokon schlichtweg nicht lebenswert. Dies ist das Geburtsrecht, das du einfordern musst, willst du die Streicheleinheiten, den Cocktail, die Zigarette, deine eigenen Witze, dein Menschsein endlich genießen.

Ich war der Witzbold auf der Party. Der in der Ecke allein sein Bier trank, das war mein Freund aus Kindertagen, Alex, Anästhesist. Komplexe hatte er schon immer gehabt, aber es war schlimmer geworden mit den Jahren. Nur im Kittel machte er eine gute Figur, also malochte er mehr und mehr. Die junge Frau war Mila, meine Partnerin. Als Kind war sie Kunstturnerin gewesen, ziemlich erfolgreich sogar, Umzug ins Frankfurter Leistungszentrum schon mit zwölf. Und mit dreizehn bulimisch. Am Morgen nach der Party war ihre obere Speiseröhre wieder entzündet einschließlich der Stimmbänder, offenbar war sie angetrunken etwas unachtsam gewesen und hatte mit dem Fingernagel alte Wunden im Rachen aufgekratzt. Und so ließ sie sich wieder einmal in eine Spezialklinik einweisen, diesmal im Schwarzwald.

Ich war froh, die Fünfzig wollte ich ohnehin alleine feiern. Was heißt feiern – umbringen wollte ich mich um kurz vor zwölf. Was du mit fünfzig noch nicht vorzuweisen hast, das wird auch nichts mehr, so glaubte ich damals. Andere hatten ihre Ehen geschlossen und Kinder geboren und Titel errungen und Häuser gebaut, ich saß den ganzen Tag lang vor einem Haufen unbrauchbarer Notizen, während meine Freundin sich neben mir im Bett zu Tode hungerte oder in irgendeiner Klinik abhing. Überdies war mir in der Woche vor der Party ein Brief der Immobiliengesellschaft ins Haus geflogen, die meine Mietswohnung gekauft hatte, mit der Ankündigung, dass auch bei mir im Dachgeschoss nun eine Heizung eingebaut werde, und zwar schon im Oktober, woraufhin die Miete um 18,5 Prozent steigen werde – pro Jahr!

63 Euro mehr im Monat konnte ich unmöglich aufbringen. Zumal ich zu stolz war, um vom Amt zu leben oder Alex anzuhauen, mir mehr Geld zu pumpen. Mein Dasein war ja von außen gesehen sowieso schon lange nicht mehr zu rechtfertigen, ich sah es selbst ein. Bücher zu schreiben, die niemand liest, ist ja kein Mehrwert, sondern ein Unwert. Verschwendete Zeit. Weggeworfenes Leben. Bäume seien Gedichte, die die Erde in den Himmel schreibe, und wir fällten sie und verwandelten sie in Papier, um unsere Leere darauf auszudrücken, sagte Khalil Gibran einmal. Und schrieb nach einer kurzen Kaffeepause weiter. Und ich verstehe es, auch wenn es keinen Sinn ergibt. Ich kann es auch nicht lassen. Es ist wie ein Zwang, eine unbedingte, innere Notwendigkeit. Ein verzweifeltes, euphorisches Aufbäumen ist es, ein trotziger, stolzer Freiheitsschrei, ein mächtiger, ohnmächtiger Fluss ins Nirgendwo.

Aus dieser Einsicht, diesem Schrei, diesem Fluss heraus und aus Prinzip – schließlich wollte ich gar keine scheiß Heizung in meiner Wohnung, sondern den Winter lang frieren zum Schreiben, zum Leben – kündigte ich noch im Sommer meine Wohnung, verkaufte die Einrichtung und flog von dem Geld nach Bangkok, um mich dort vom höchsten Wolkenkratzer in die andere Freiheit zu stürzen. Der innere Kokon ist die eine Sache. Die äußere Zwangsjacke die andere. Auf der Haut des Menschen wachsen sie zusammen. Das macht die Haut ja so hart. Und das Leben so schwer. Und den Sprung so verführerisch.

Anders als die Natur produziert die kollektive Dystopie ja unablässig Müll: Teile der Natur, die sie gebraucht hat und nun eben nicht mehr braucht und in die Tonne kloppt. Das Pferd zum Beispiel, das beim Schlachter landet, weil es zu alt ist, um die Kutsche zu ziehen. Oder die Plastiktüte, die aus natürlichen Molekülen synthetisiert, verkauft, gebraucht und schließlich weggeworfen wird. Oder eben der Mensch, der entsorgt wird. In der Nervenheilanstalt zum Beispiel. Im Altersheim. Im Gefängnis. Oder unter der Brücke. Mancher wird nie gebraucht und gleich als nutzlos deklariert und in die Tonne gekloppt. Andere wehren sich zu sehr, verweigern ein Dasein als Werkzeug des Irrsinns. Hier kreuzen sich Hamsuns und Dostojewskis Wege. Der eine wurde auf ein Schiff, der andere nach Sibirien verbannt.

Aber die Mülldeponie ist ja in erster Linie kein Ort, jedenfalls kein räumlicher. Sie ist eine Ebene des kollektiven Bewusstseins, ein Raum im Geist der Dystopie. Hier, in diesem Geistesraum, habe ich Hamsun und Dostojewski kennen– und lieben gelernt, hier bin ich Nietzsche begegnet und seinem zu Tode gepeitschten Pferd. Wir verstehen uns hier nicht als Gefangene, wir sind alle freiwillig hier, obwohl einige das noch nicht wissen. Wir sind hier, weil es der einzige Raum innerhalb der kollektiven Wirklichkeit ist, in dem wir noch frei sind.

Nur hier, in ihrem entsorgten Müll, lebt noch die Hoffnung, dass die Menschheit einmal blüht. Hier hänge ich gemeinsam mit dem Meister von St. Petersburg an Coetzees Glocke von Sergejew, die, obwohl sie einen großen Riss aufweist – ein Schaden, der nicht mehr zu beheben ist – niemals ausgetauscht und eingegossen worden ist, sondern noch immer jeden Tag vom Kloster her über der Stadt erklingt und von den Menschen liebevoll „Das hölzerne Bein des heiligen Sergius“ genannt wird. Auf dem höchsten Wolkenkratzer Bangkoks stehe ich und hänge an der Glocke von Sergejew und schwinge sachte hin- und wieder her, hier im Licht der Welt erscheinend, dort im Riss durch die Welt verschwindend. Endloser Fall ohne Aufprall. Dantes göttliche Komödie ohne Schwerkraft. Meister Eckharts ewige Geburt.

Wir geben nichts und niemanden auf hier im Raum der Entsorgten. Genau darum lebt ja hier noch die Hoffnung, dass die Menschenwelt einmal blüht. Die Nutzlosigkeit reicht hier nicht her. Was hier lebt, das ist vom Nutzenmüssen befreit. Als nutzlos wurde es nur dort erachtet, wo es Nützlichkeit, wo es Ausnutzung gab. Solange es ausgenutzt wurde, solange musste es bleiben, was es war in seiner Nützlichkeit. Erst hier, wo es nicht mehr benutzt wird, ist es frei, zu werden, was es nie gewesen ist.

Es ist der Preis der Freiheit, dieses Hängen im Riss durch den Wahnsinn der Normalität. Ein Radwerk ist die Normalität, das dich erbarmungslos zermalmt, weil es dafür erschaffen wurde, dich zu zermalmen, weil es sein Nutzen ist, sich die Natur, sich die Menschen Untertan zu machen und damit alles wahre Leben zu vernichten. Da kann die Gesellschaft noch so sorgsam jede Spur ihres Wahnsinns verbrennen und noch so tief ins Gestein bohren, um dort, in tiefster Finsternis, endzulagern, was sie vergessen und nie wiedersehen will – sie kann längst nicht mehr verbergen, was sie an toxischer Ödnis, an Wüsten der Zerstörung schafft. Auch an Menschen. Auch im Menschen. Was die Gesellschaft entsorgt, eben das enthüllt sie. Derweil ist das Entsorgte von ihr gereinigt – und damit endlich frei, aus sich selbst heraus zu leben und zu wachsen als Natur – und aufzublühen als menschliche Kultur.

Hier in Kambodscha, in der abgehängten, in der dritten Welt, quaken die Frösche noch zu jedem Regen, und wenn es gewittert, dann fällt stundenlang der Strom aus. Über meinem Bett hängt tagsüber die Fledermaus, und die Wespe baut jedes Jahr eine neue Bruthöhle aus Lehm an meine Badezimmerwand. Es kümmert sie auch nicht, wenn ich währenddessen rauchend auf dem Plumpsklo sitze. Ein Tier, das dir vertraut, das ist der Klang der Glocke von Sergejew. Es tut mir leid um die Menschen, die ihn nicht hören. Es tut mir leid um all die ungeschriebenen Gedichte, um all die Horizonte, die sich niemals auftaten.

Gleichzeitig bin ich dankbar. Dankbar, dass ich keine Heizung wollte. Dass die Menschheit mich entsorgt hat. Dass sich die Kluft auftat, in die ich fallen konnte, in der ich seither leben darf als Riss durch mich selbst. Vorher war es kaum zu ertragen mit mir, ein Albtraum war es, ein Albtraum war ich, ein Blatt im Wind, ein verzweifelter Clown in seiner verhärteten Schlangenhaut, durchs Leben gehetzt vom ständigen Wunsch, zu gefallen, der ständigen Angst, zu versagen, vom Räderwerk zerschmettert, in Hohn und Spott vom Hof gejagt zu werden als König ohne Kleider. Als es dann geschehen war, da war es nicht mehr schlimm. Da war das Fallen ein Fliegen. Und meine Wurzeln fanden erstmals festen Boden.

Wie einfach Leben ist, das lehrt dich nur die Schule des Lebens selbst. Wenn die Hunde unten auf der Straße heulen, dann heulen wir mit. Wenn drei Meter weiter das Gewitter einschlägt, dann pochen unsere Herzen vor Angst und werden ganz klein und hoffen ganz leise, dieses eine Mal noch davonzukommen mit dem ach so gebrechlichen, bedeutungslosen Leben. Und wenn danach die Sonne wieder scheint, dann hüpfen wir ins nasse Gras.

Nur auf fremde Menschen, die zu nahe kommen, reagieren wir allergisch. Ein Rest von Schlangenhaut ist eben immer da, wächst eben immer nach. Aber weich, fast flauschig, fast wie Hundefell. Wir bellen nur und beißen nicht. Wobei das Bellen ja nicht ganz unbegründet ist. Es ist ja nicht vergleichbar mit der Panik unserer neuen Mitbewohnerin vor dem alten gelben Besen, die monatelang so groß war, dass sie sofort aus dem Haus floh, sobald ich den Besen auch nur in die Hand nahm. Erinnerte Schläge mit dem Stock, wie ich vermute.

Als Rudel fürchten wir den Stock nicht, sondern haben Angst vor dem Schläger, wo Menschen sich nähern. Wir bellen wider den Wahnsinn hinter dem Zaun. Ein Auge bleibt daher immer offen, wie müde wir auch sind. Denn während wir hier bloß spielen, wartet vor dem Tor der blanke Ernst. Kinder warten dort, die nicht gekommen sind, um mit uns Sandburgen zu bauen, sondern Cowboy und Indianer spielen – aber mit echten Waffen.

Das ist der Wahnsinn. Was mir längst Museum ist, verblassende Erinnerung an dystopische Bewusstseinsräume, das ist dort draußen Wirklichkeit. Der sichere Ort für die Hunde reicht nur bis zum Zaun. Und selbst das nur durch unsere Präsenz. Und während ich über meinen Notizen sitze und die Lesebrille suche und Mila drüben in ihrem Häuschen bunte Schmetterlinge an die Wände malt und dazu Lieder von der Liebe singt, verdunkelt der Kokon der Menschheit den Rest der Welt. Es muss wohl so sein, sonst wäre es nicht. Schade ist es zwar. Aber schlimm ist es nicht. Es ist alles gut. Samsara ist Nirvana. Soviel darf ich sagen als nutzloser Narr.

Verlierer-Beitrag zum Walter-Serner-Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema “Wendepunkte”


Est ubi gloria nunc Babylonia? von Umberto Eco
in “Der Name der Rose”

Est ubi gloria nunc Babylonia? (Wo ist nun Babylons Ruhm?) Wo ist der Schnee vom vorigen Jahr? Die Welt tanzt den schaurigen Tanz des Macabré, mich dünkt zuweilen, die Donau sei voller Narrenschiffe auf der Fahrt in ein dunkles Land. 

Mir bleibt nur zu schweigen. O quam salubre, quam iu cundum et suave est sedere in solitudine et tacere et loqui cum Deo! (Oh, wie heilsam, wie erfreulich und süß ist es, in der Einsamkeit zu sitzen und zu schweigen und mit Gott zu reden!) 

Bald schon werde ich wiedervereint sein mit meinem Ursprung, und ich glaube nicht mehr, daß es der Gott der Herrlichkeit ist, von welchem mir die Äbte meines Ordens erzählten, auch nicht der Gott der Freude, wie einst die Minderen Brüder glaubten, vielleicht nicht einmal der Gott der Barmherzigkeit. Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier…. 

Ich werde rasch vordringen in jene allerweiteste, allerebenste und unermessliche Einöde, in welcher der wahrhaft fromme Geist so selig vergehet. Ich werde versinken in der göttlichen Finsternis, in ein Stillschweigen und unaussprechliches Einswerden, und in diesem Versinken wird verloren sein alles Gleich und Ungleich, in diesem Abgrund wird auch mein Geist sich verlieren und nichts mehr wissen von Gott noch von sich selbst noch von Gleich und Ungleich noch von nichts gar nichts. Und ausgelöscht sein werden alle Unterschiede, ich werde eingehen in den einfältigen Grund, in die stille Wüste, in jenes Innerste, da niemand heimisch ist. Ich werde eintauchen in die wüste und öde Gottheit, darinnen ist weder Werk noch Bild… 

Kalt ist’s im Skriptorium, der Daumen schmerzt mich. Ich gehe und hinterlasse dies Schreiben, ich weiß nicht, für wen, ich weiß auch nicht mehr, worüber: Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus. (Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen.)


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