
Der goldene Schuss, Ein Märchen für Erwachsene
92 Seiten
Wie tief wagst du hinabzusteigen, wie hoch emporzuklettern? Dieses Märchen enthüllt die dunkelsten Abgründe, die höchsten Sphären — und die letzte Wahrheit.
Blick ins Buch
Rumi, mein kleiner schwarzer Mischling, rennt die Böschung hinauf, bleibt vor dem Gebüsch stehen und bellt wie verrückt. Plötzlich ist es mucksmäuschenstill und von Rumi nichts mehr zu sehen. Ruumiii!, rufe ich mehrmals.
Nichts. Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als selbst die Böschung hinaufzuklettern. Hinter dem Gebüsch klafft ein riesiges Loch, bestimmt zwei Meter im Umfang. Wie tief es ist, kann ich nicht abschätzen, Ruumiii!, rufe ich ins Schwarz hinein.
Wuff, wuff!
Der freudigen Antwort nach zu urteilen scheint er wohlauf. Ich krieche unter dem Gebüsch hindurch zum Rand vor. Da ich auf einen schmalen Vorsprung steige, rutsche ich ab und falle ins Loch. Gott sei Dank geht es nur etwa zwei Meter tief und der Boden ist eben, so dass ich ins Stehen falle. Es dauert gute zehn Sekunden, bis meine Augen sich einigermaßen an das Dunkel gewöhnt haben und ich überhaupt etwas sehe. Rumi springt aufgeregt an mir hoch, läuft dann auf einen Schatten in der Ecke zu. Ich gehe auf den Schatten zu. Es ist ein dunkelblondes Mädchen. Es sitzt vor einem Kaninchenbau und starrt mich mit großen braunen Augen an.
Alles okay?
Sie nickt.
Bist du hier reingefallen?
Sie schüttelt den Kopf, zeigt auf den Kaninchenbau.
Dort rausgekrochen?
Ja, nickt sie.
Wie heißt du denn?
Alice. Aber Sie, Sir, sie sind nicht Lewis.
Welcher Lewis?
Muss ich zurück, Sir?
Wohin zurück?
Zurück nach unten, Sir?
In den Kaninchenbau? Warst du da wirklich drin?
Sie nickt.
Wie bist du denn überhaupt hierhergekommen?
Weiß ich nicht.
Hat dich jemand hergebracht?
Sie antwortet nicht.
Alice?
Ja?
Hast du gehört, was ich gefragt habe?
Nein, was denn?
Hat dich jemand hergebracht?
Weiß ich nicht.
Weißt du, wo du bist?
Nein.
Komm jetzt erst Mal, sage ich und helfe ihr auf die Beine und hebe sie aus dem Loch. Dann nehme ich Rumi in den Arm und klettere selbst die Wand hoch.
Wie ist dein voller Name? Und wo wohnst du?
Keine Antwort.
Hallo!
Ja?
Wie heißt du?
Alice Liddell, Sir.
Und wo wohnst du?
In Oxford, Sir.
Warum nennst du mich Sir?
Das macht man so, Sir.
Wann bist du geboren, Alice, weißt du das?
Am 4. Mai 1852, Sir.
Ich bringe sie erst einmal zur Hütte. Besser gesagt, Rumi folgt mir zur Hütte, und Alice folgt Rumi. Wenn er irgendwo einen Umweg macht und an einem Gebüsch rumschnüffelt, geht sie mit zum Gebüsch und bleibt ihrerseits stehen, bis der Hund weiterläuft.
Da ich die Tür aufmache, läuft Rumi gleich zu seinem Körbchen.
Setz dich irgendwo hin! Willst du ein Glas Wasser?
Sie setzt sich mit ins Körbchen, Rumi springt auf ihren Schoß. Ich reiche ihr das Glas und gehe zurück zur Küchenzeile. Während ich ihr ein Sandwich mache, überlege ich, sie zur Polizei zu bringen. Bei dem Gedanken schrecke ich sofort zusammen, so dass ich ihn wieder verwerfe.
Als ich ihr den Teller bringe, ist sie in Rumis Körbchen eingeschlafen. Rumi sitzt verdutzt zu ihren Füßen. Ich teile mir das Sandwich mit ihm.
Eine Weile stehe ich kauend da, das schlafende Mädchen betrachtend, unschlüssig, was tun.
Schließlich gehe ich zum Regal, greife zum Handy und schalte es ein. Empfang habe ich, aber kein Guthaben zum Surfen. Ich schreibe Isa eine SMS.
Während ich mir einen Kaffee mache, vibriert das Handy. Isa hat 20 Euro aufgeladen. Ich suche nach Alice Liddell. Vor über 90 Jahren gestorben. Mit über 82. Lewis Carroll, Alice im Wunderland.
Dachte ich mir doch, das Buch kenne ich aus der Schule. Oder war es das Heim?
Ich lade eine kostenlose Version herunter. Ich fand die Geschichte schon als Kind ziemlich gruselig. Alice, die einem weißen Kaninchen folgt, bis sie zu einem Kaninchenbau gelangen, durch den Alice in eine unterirdische Welt gelangt, wo sie allerlei bizarre Erfahrungen macht und Abenteuer erlebt und sich, als sie schließlich wieder zurück nach Hause will, in einem seltsamen Wald verirrt, in dem sich Tiere in Trauer auflösen und die Herzenskönigin Enthauptungen vornimmt. Sie will auch Alice Alice enthaupten. Alice flieht und gelangt zurück zur Tür des Kaninchenbaus. Doch sie kann die Tür nicht öffnen. Als sie durchs Schlüsselloch lugt, sieht sie sich schlafend auf der Wiese liegen – und dort wieder aufwachen.
Als ich mit dem Buch durch bin, lege ich das Handy auf den Tisch und schaue nach Alice und Rumi. Sie schlafen tief und fest in Rumis Körbchen. Ich setze mich wieder an den Tisch und suche alles über Lewis Carroll, den Autor. Ich finde anzügliche Fotos, die er damals von Alice und ihren Schwestern machte. Und seine Tagebücher. Leider fehlen ausgerechnet die Tagebücher aus den Jahren, in denen die Fotos entstanden. Langsam werde ich stutzig. Umso mehr, da ich über die anglikanische Kirche lese, der Lewis angehörte. Und über die SPR, die Sozietät für Studien zur Erforschung des Übersinnlichen, deren Mitglied er war. Ich sehe mir einen Beitrag der BBC an, der Lewis als Pädophilen entlarvt.
Dann finde ich ein Interview mit einem Psychologie-Professor namens Philip Roth zum Thema. Der erzählt, dass damals durchaus schon zu Hypnose und Dissoziation geforscht wurde – beispielsweise von der Sozietät, der Lewis angehörte – und dass er keinerlei Zweifel habe, dass Alices Reise ins Wunderland hypnotischer Natur war. Er zitiert Passagen aus dem Buch, um seine These zu unterlegen.
„Das Kaninchenloch führte ein Stück geradeaus wie ein Tunnel und fiel dann plötzlich steil ab, so plötzlich, dass Alice nicht einen Augenblick daran denken konnte anzuhalten, ehe sie einen anscheinend sehr tiefen Schacht hinunterfiel. Hinab, hinab, hinab. Wollte der Sturz denn niemals enden?“
Das sei die Hypnose-Induktion, sagt Professor Roth dazu.
„Dieses seltsame Kind hatte großen Spaß daran, so zu tun, als sei es zwei Personen.“
Hier beginne die Dissoziation, sagt der Professor.
„Wer in aller Welt bin ich? Ah, das ist das große Problem.“
„Ich wollte, ich hätte nicht so viel geweint! sagte Alice, während sie umherschwamm, um einen Weg hinaus zu finden. Jetzt soll ich wohl dafür bestraft werden, indem ich in meinen eigenen Tränen ertrinke!“
„Ich hoffe, du nimmst nicht an, dies seien wirkliche Tränen?, unterbrach Tweedledum in einem sehr verächtlichen Ton.“
„Du kannst nach vorn schauen und nach beiden Seiten, wenn du möchtest, sagte das Schaf, aber du kannst nicht um dich schauen – es sei denn, dass du Augen im Hinterkopf hast.“
Die Dissoziation vertiefe sich immer weiter, sagt der Professor.
„Ich hoffe nur, dass es mein Traum ist und nicht der des Schwarzen Königs! Ich möchte nicht zu dem Traum einer anderen Person gehören.“
„Du weißt, sie ist meine Gefangene! sagte der Schwarze Ritter schließlich.“
„Jetzt, Miezchen, lass uns überlegen, wer das alles geträumt hat. Das ist eine ernste Frage, meine Liebe, und du solltest nicht fortwährend deine Pfote lecken – als ob dich Dinah nicht diesen Morgen gewaschen hätte! Du siehst, Miezchen, es muss entweder ich oder der Schwarze König gewesen sein. Er war natürlich ein Teil meines Traums – aber dann war ich auch ein Teil seines Traums. War es der Schwarze König, Miezchen?“
Roth schreibt: „Es handelt sich um Bewusstseinsmanipulation der bösesten Art. Ausgerechnet das Herz ist hier der große Verräter, ausgerechnet auf die Liebe ist kein Verlass. Schneeweiß aber, gänzlich unschuldig, ist ausgerechnet das Kaninchen, das niederträchtige Schwein von Programmierer. Das arme Mädchen folgt dem Schwein. Das ist die Umkehr der natürlichen Ordnung von der Wurzel her. Das ist die neue Welt.“
Ich lege das Handy zur Seite, schlürfe gedankenverloren den längst kalten Kaffee. Schließlich greife ich abermals zum Handy und lese zum Thema Dissoziation, bis ich einigermaßen begreife, was das ist. Wirklichkeitsentfremdung ist es. Und vor allem Selbstentfremdung. Bis zur Unkenntlichkeit. Dann kannst du mehrere Personen sein, mit unterschiedlichen Charakteren. Die nichts voneinander wissen.
Dann lese ich Alices Abenteuer im Wunderland ein zweites Mal. Während die Geschichte immer nebulöser wird, wird das Bild im Zentrum immer klarer. Lewis mit den drei Mädchen der Familie Liddell in Oxford. Lewis, der Märchen erzählt nicht um der schönen Geschichten willen, sondern mit dem klaren Ziel, die Mädchen zu hypnotisieren. Und zwar so tief, dass sie sich anschließend an nichts erinnern. So dass er mit ihnen machen kann, was er will.
Und er macht mit ihnen, was er will. Und er schreibt darüber ein Buch, Alices Abenteuer im Wunderland. Und er bringt das Buch heraus als Anleitung für Pädophile. Und die Menschen lesen es ihren Kindern vor, es wird ein Weltbestseller.
Mich verdutzt das Fläschchen, auf dem „Trink mich!“ geschrieben steht und das Alice so gut schmeckt (nämlich nach einer Mischung von Kirschtörtchen, Vanillepudding, Ananas, Putenbraten, Sahnebonbons und heißem Toast mit Butter). Wieso meint sie, da sie es im Kaninchenbau findet und trinkt, plötzlich, auf 25 Zentimeter geschrumpft zu sein? Und was ist in dem kleinen Kuchen im Glaskästchen, auf dem schön mit Korinthen „Iss mich!“ geschrieben steht? Was im Kuchen bewirkt, dass ihr die eigenen kleinen Füße plötzlich so weit entfernt zu sein scheinen, dass sie Lebewohl zu ihnen sagt und einen Teich aus Tränen weint?
Von Psychologie habe ich keine Ahnung, aber mit Drogen kenne ich mich aus! Lewis muss um die Wirkung psychodelischer Substanzen wissen, er wird sie den Mädchen genau so unterjubeln, wie er es im Buch beschreibt. Er hypnotisiert die Mädchen nicht bloß, er setzt sie unter starke Drogen, und dann hypnotisiert er sie. So dass er mit ihnen machen kann, was er will. Und er macht mit ihnen, was er will. Und wenn sie anschließend aufwachen, können sie sich an nichts erinnern.
Eine Frage, die ich mir direkt stelle, ist: Woher weiß Lewis, dass all dies möglich ist? Ist die anglikanische Kirche im Spiel, oder die SPR? Und woher stammt die dunkle Kunst, wie alt ist dieses Wissen? Und wieso kam es zum Zerwürfnis zwischen Lewis und den Liddells, konnten die Schwestern sich wider Erwarten doch erinnern? Oder haben ihre Eltern etwas geahnt? Oder waren die Eltern etwa mit im Spiel?
Es ist schon nach Mitternacht, ich bin todmüde. Ich trage Alice vom Körbchen ins Bett, Rumi springt zu ihr auf die Matratze. Ich nehme mir ein Kopfkissen und lege mich neben dem Bett auf den Boden.
Kaum bin ich eingeschlafen, wacht Alice schreiend auf. Ich schrecke hoch. Sie sitzt im Bett und blickt mich aus großen braunen Augen an. Ich lege Holz nach, sicher hat sie Angst im Dunkeln. Dann mache ich ihr einen heißen Tee und setze mich zu ihr. Rumi schleckt ihr das Gesicht ab. Sie sitzt weiter aufrecht da, noch, als sie den Tee ausgetrunken hat, offenbar will sie nicht wieder einschlafen. Wir sitzen, bis der Morgen graut, erst dann kriecht sie wieder unter die Bettdecke.