Heute Nacht im Traum ist mir mal wieder ein Zahn rausgefallen. Was kein Wunder ist. Ich beiße mir an dieser Welt die Zähne aus. Alles in allem bin ich, meine ich, in guter Absicht auf die sogenannte Erde gekommen. Wo jemand zu allen Seiten Liebe schenkt wie Bonbons beim Karneval, da ist die Absicht klar. Bei mir blieb die Absicht immer verborgen, nur die Anziehungskraft verriet überhaupt eine Richtung. Im Nachhinein ist klar, was die Absicht war. Aber bloß mir. Der Welt ist sie nach wie vor verborgen.
Der innere Guru war die Absicht. Und der Weg war, eins mit ihm zu werden, sprich: samt meiner Welt in ihm zu verschwinden. Ein guter Weg, eine gute Absicht ist das aber nur aus meiner Sicht jetzt. Aus der Sicht der Welt ist es eine scheiß Absicht und ein schrecklicher Weg. Darum beiße ich mir ja an der Welt die Zähne aus. Selbst fortgeschrittene spirituelle Aspiranten sehen ja oft nur, wie schwer es ihnen fällt, den inneren Guru wahrzunehmen, geschweige denn ihm zu vertrauen und dem Sog zu folgen — und sehen noch gar nicht, wie schwer es der innere Guru mit ihnen hat. Darum kann ja bisweilen ein äußerer Guru helfen, und darum wird es meist ziemlich ungemütlich, wo er auftaucht — weil er widerspiegelt, wie zäh das Fleisch, wie unreif der Aspirant noch ist, woran genau sich der innere Guru die Zähne ausbeißt.
Und das sind, wie gesagt, die Fortgeschrittenen, an denen er herumbeißt, es ist nicht das tiefgefrorene Fleisch der restlichen Welt. Denn die unterstellt ihm ja schlechte Absichten, die will ja nicht verschwinden. Das ist das Fleisch aus der spirituellen Massentierhaltung, das ist reine Schwerkraft, absichtsloser Lebenswille, reines Daseinsleid ohne jede Gegenkraft der Transzendenz. Hier ist der innere Guru Veganer, hier liegt der Grill noch im Keller und der Guru im Winterschlaf. Man lebt, als gäbe es einander nicht. Und es gibt einander ja auch nicht. Und so beißt man sich aneinander auch nicht die Zähne aus.
Kontemporäre spirituelle Traditionen sind vegane Grillfeste in Abwesenheit des Gurus. Das ist schade, aber unvermeidlich. Aspiranten, die den Guru wecken, sind rar gesät. Und meistens sind sie, bis der Grill angeschmissen und das Messer gewetzt ist, schon wieder in der Tiefkühltruhe verschwunden. So ist es mit den Menschen, mit der Reise namens Leben auf der sogenannten Erde. Eigentlich ist alles da, das Fleisch, das Messer, der Grill, der Guru. Eigentlich könnte Filet um Filet zurechtgeschnitten und medium-rare gebraten werden und im Maul des Gurus verschwinden. Stattdessen gibt es rohe Karotten mit Yoga-Soße und Karnevalsbonbons.
Im Tagtraum fallen mir auch die Zähne aus. Hier liegt es aber an den Karnevalsbonbons. Lebenslanges süßes Lutschen wider das bittere Daseinsleid. Vor allem, als der innere Guru noch pennte. Das geht so in Ordnung. Alle Absicht verlangt Opfer, und der blinde Lebenswille ist eine eigene Absicht, die es eben verlangt, Bonbons zu lutschen. Mein Geschwafel hier ist auch ein Opfer. Gegrilltes Filet zum Mitnehmen. Noch blutig. Im Gehege aufgewachsen, in freie Wildbahn entflohen und dort erlegt. Ungesalzene Worte, Geschichten ohne Maggi. Seelen-Stirptease ohne Make-up, einfach Fett, das im Feuer zischt, Haut verbrennt zur Kruste. Einfache Küche. Aber keine leichte Kost.
Bozo Brecht