Die Hitze dieser Tage zieht dem Körper die Schuhe aus, zumal es auch nachts kaum abkühlt. Ich kann mich trotzdem nicht durchringen, Klimaanlagen zu besorgen, obwohl der Verstand es immer wieder vorschlägt. Es ist doch schade um die Hitze, wenn sie niemand fühlt. Verstand und Körper signalisieren ja stets, wo genau die Grenzen ihrer Komfortzone liegen, und fangen wie kleine Kinder zu schreien an, wo diese Grenzen überschritten sind. Aus Sicht des luziden Träumers ist dieses ständige Theater eine Form von Tyrannei. Und man kennt es vom Umgang mit Kindern und Hunden: Wo man einmal nachgibt, da ist das Theater konditioniert und hört gar nicht mehr auf. Bald ist dann auch der Baustellenlärm nebenan ein Problem. Und der Pilz im Bad. Und das Loch im Zahn. Und der Kopfschmerz. Und das Blut im Arsch. Und die neuen Nachbarn, eine Bienenfamilie, die abends zu Besuch kommt.
Natürlich kann man auch Klarträumen und Pilz und Bienen und Schmerz und Unbehagen töten. Nur ist die Sache lange nicht mehr so eindeutig wie es dem Körpergeist erscheint. Denn der Liebe zum Komfort steht die Liebe zu den Extremen gegenüber. Der Geist will es doch nicht nur sicher und gemütlich haben in einem Traum, er will doch an Grenzen gehen und diese überschreiten. Er will nicht innerhalb der Grenzen der Komfortzone spielen, er will mit den Grenzen spielen. Luzides Denken, luzides Leben beinhaltet die Stimme des Verstandes, aber es gehorcht ihr nicht. Es wäre schade um das Denken, um das Leben, um den Daseinstraum.
Vor ein paar Monaten war ich beim Rasenmähen zu nah an ein Wespennest geraten, eine halbe Stunde lag ich mit einem anaphylaktischen Schock im Bett. Es war eine phantastische Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Der Körpergeist schrie nach antiallergischen Tabletten, und ich schluckte ein paar. Wahrscheinlich hat er mir das Leben gerettet. Aber die Erfahrung war die Gefahr wert. In meinen Augen, in den Augen des Lebens. In den Augen des Körpergeistes nicht. Das ist das Dilemma mit seiner begrenzten Perspektive und Identität. Das ist das Dilemma allen nicht-luziden Träumens. Es wird zum Theater um die ‚richtige‘ Temperatur degradiert. Dabei wäre ein Hitzeschlag doch geil. Drastische Erfahrungen sind das Salz in der Suppe des Traumes der Körperlichkeit. Der luzide Träumer weiß das, der nicht-luzide Träumer weiß es nicht.
Klarträumen zeichnet sich unter anderem durch Klardenken aus. Klardenken heißt, das der Verstand stets als das Kind gesehen und behandelt wird, das er ist, und damit gar keine Möglichkeit mehr erhält, das Kommando zu übernehmen und sein tyrannisches Reich klarer Grenzen zu manifestieren. Es ist kein Problem, das er Dinge als gut oder schlecht und richtig oder falsch kategorisiert, weil es das Leben nicht beeinflusst. Er ist der König dieser kollektiven Welt, in der Welt des luziden Denkers aber ist er nur ein Diener und weiß es auch. Er muckt auch nicht mehr auf. Luzidität ist das Ende des Theaters. In der Klarheit kennt alles seinen Platz und trägt seinen Teil zur Suppe bei. Das Salz aber ist die Grenzenlosigkeit. Denn das wahre Selbst ist der Koch.
Bozo Brecht