Vom Auflösen einer Verkrampfung namens Ich

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Österreich in Transit

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Angst in die Welt atmen

und so viele Worte
und so viel Tun

und nicht wissen,
wohin wir wollen

und sich verlieren
in der Wüste der Verwirrten


Adoni Adornit

Der Mensch ist das verrückte Tier, das seine Existenz zerdenkt. Kein Tier war je ein Adornit. Das Tier lebt aus der Position. Vor Negation bewahrt es tierischer Instinkt. Nicht so der Mensch, der alles, was sein Herz erfreut, sogleich gedankenscharf verwirft; das Paradies verwarf er gar, das er als ein Geschenk empfing. Wir tragen die Folgen dieser Tat und den Impuls in uns bis heut. Das ist der Mensch: das Tier, das sich zuletzt zerdenkt.


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Zum Rollenspiel geboren von Robert M., Phnom Penh

Jeder von uns ist dazu geboren, seine Rolle zu spielen.
Manchen wird ihre Rolle gleich zu Beginn offenbart, während andere sie geheim halten und sorgfältig verbergen – und warten müssen, bis sie enthüllt wird.

Manche Schauspieler sind für Hauptrollen prädestiniert, andere werden nur als Nebendarsteller engagiert – gemeinsam dazu aufgerufen, ein Publikum zu unterhalten, das den voyeuristischen Zuschauer spielen soll.
Und wer kann schon zuverlässig dazu aufgerufen werden, zu klatschen und zu jubeln, zu jammern und zu heulen oder zu zischen und zu buhen, wenn er dazu aufgefordert wird, pflichtbewusst aufs Stichwort zu reagieren?

Eine Vielzahl von Schauspielern wurde engagiert, um die Bandbreite menschlicher Emotionen zu zeigen –
von den Erhebenden und Erhabenen bis hin zu allem Tierischen und Abscheulichsten.
Die gespielten Rollen können ein Leben lang dauern und abenteuerlich dramatisch oder tragisch-erbärmlich sein, flüchtig heroisch oder unscheinbar banal, und am Ende wird der Schauspieler hastig von der Bühne geworfen.

Bedenke jedoch, dass nur wenige Privilegierte gelobt und mit dauerhaftem Ruhm bedacht werden – weit übertroffen von denen, die unbeachtet bleiben und denen nicht einmal die geringste Anerkennung zuteilwird.

Sind unsere Rollen im Drehbuch vorherbestimmt, oder wurde dem freien Willen und dem Zufall eine Rolle zugesprochen?

Wurde diese Produktion aufwendig inszeniert, auf dass sie auf Ewigkeit besteht – zur Qual und gleichsam zur Unterhaltung? Und wenn ja, wer inszeniert sie, für wen ist sie letztlich bestimmt?

Wenn die Darsteller ihren letzten Vorhang nehmen,werden dann die Kritiker der Geschichte einberufen und beauftragt, willkürlich zu entscheiden – wer es verdient, gefeiert und vergöttert zu werden und wer verunglimpft und dämonisiert?

Sei gewarnt: Der Ruf eines Künstlers kann sich sehr schnell ändern. Denkmäler können später verunstaltet werden,
Lobeshymnen in Diffamationen ausarten. Und was Tostoi betrifft, der diese Tatsache lamentierte: Erst wenn Geschichte auch diese Facetten betreffend wahrheitsgetreu abgebildet wird, erst dann kann das ewige Buch als wirklich bedeutsam – und wahrhaft wunderbar – erachtet werden.


Die Fahne schwenkt in Gaza von Solange Linhares, Brasilien

Die Fahne schwenkt in Gaza, demokratisch
der Mut schwankt leer, humanitär
die Totenglocke schwingt umsonst, im Namen der Zivilisation

Schwebend schwingen ohne Ziel, aber mit besten Absichten
schwankend klingen ohne Sinn, doch juristisch einwandfrei

Er wankt durchs Ghetto, zur Sicherheit evakuiert
doch will nicht schwanken, bleibt standhaft gläubig, vergebens

Links schwenken für die Unterdrückten
rechts schwanken für die Ordnung
in der Mitte einschwenken für den Konsens, ohne Halt
Linksaußen kompromisslos, rechtsaußen identitär
beide ins Leere, beide im Recht
liberal bleibt die Debatte, ausgewogen und folgenlos

Rot geschwenkt für die Arbeiterklasse
braun geschwankt für das Vaterland
grau geschwungen für die Vernunft
alle verblassen, alle gut gemeint
Das Brot, das Schwert, das Gold, alle versprochen
die rote Fahne, die schwarze Erde, beide verstummt

Alles zerfällt
alles dokumentiert

Die Kerze geschwenkt beim Schwanken
die Betroffenheit zur Akte gelegt
die Finsternis bleibt, das Gewissen ist rein

Militant schwenken, legitime Selbstverteidigung
pazifistisch schwanken, gewaltfreier Widerstand
die Totenglocke schwingt umsonst, die Absicht war legitim

Verhandeln, gegenverhandeln, bis zum Sturz
die Gespräche waren konstruktiv, die Protokolle vollständig

Schwingend klingt das Nichts, arrangiert und archiviert
schwebend singt der Tod, gefilmt und dokumentiert

Geschwebt wie Rauch über Warschau, akzeptabler Kollateralschaden
geschwungen wie Wind über Gaza, unvermeidliche Eskalation
beide vergänglich, beide statistisch erfasst

Freiheit erschwinglich für die Reichen
Gerechtigkeit unerschwinglich für die Armen
alle käuflich, alle im Angebot

Gestern schwungvoll, heute schwunglos
nie schwunghaft, nur Verfall
jeder Moment katalogisiert, jede Sekunde dokumentiert

Schwingungsfrei
bleibt die Stille des Todes

Verschwenkt die Perspektive, die Geschichte umgeschrieben
herumgeschwenkt im Wahn, die Wahrheit verschoben
der Kompass zerbrochen, die Karte aktualisiert, alles notiert

Von Warschau bis Gaza:
rot, braun, grau, alle erprobt
sozialistisch, faschistisch, kapitalistisch, alle gescheitert
alles schwingt, schwankt, schwebt
ins Nichts

Die Akten sind vollständig
Die Leichen gezählt
Die Fahne schwenkt weiter

Alles dokumentiert 


Jacob Böhme: Die Persona: Das Gespenst vor Gott

Ramana Maharshi: Wer bin ich?

Byron Katie: Das Ende des Leidens

U.G. Krishnamurti: Das Ende der Sehnsucht

Der siebenköpfige Drache
Nick Williams

Alles, was aus einem auf Logik basierenden System hervorgeht, ist tautologisch oder inhaltsleer. Weil Logik inhaltsleer ist, weil Logik tautologisch ist, sind auch wir es, wenn wir uns in Systemen, in logisch kohärenten Kollektiven organisieren. Auch unser Leben wird dadurch inhaltsleer oder „überflüssig“. Alles, was vom Denken organisiert wird, ist so; Krishnamurtis „Lieblingswitz“ (der über den Teufel und seinen Freund) ist ein gutes Beispiel dafür. Zuerst kommt die Realität (das heißt die natürliche Ordnung der Dinge), die ganzheitlich und gut ist, dann kommt das Denken wie der Urgroßvater aller sich einmischenden Besserwisser und organisiert sie…

Egal um welche Situation es sich handelt, wir stellen uns vor, dass sie durch die richtige Organisation, durch mehr Effizienz, durch die Optimierung des Prozesses (oder besser gesagt, dessen, was wir als Prozess verstehen) verbessert wird. Das funktioniert nie, aber – irgendwie – bemerken wir das überhaupt nicht, und wenn etwas schiefgeht – was immer der Fall ist –, dann können wir immer irgendeinen externen Faktor dafür verantwortlich machen (ohne den alles perfekt nach Plan verlaufen wäre).

Es ist – könnte man sagen – ein äußerst seltenes Ereignis, dass wir die eigentliche Wahrheit der Sache erkennen, nämlich dass der Fehler im Denken selbst liegt. „Das Denken kann das Problem nicht lösen, weil das Denken selbst das Problem ist“, sagt Krishnamurti. Das Denken organisiert die Welt für uns (und wartet dabei nicht darauf, gefragt zu werden) und organisiert sie um seine eigenen Kategorien herum. Es fragmentiert die Welt gemäß seinen eigenen willkürlichen Einteilungen (oder Unterscheidungen) und nimmt diese Kategorien, diese Einteilungen, dann völlig als gegeben hin. Es betrachtet sie als „gegeben“, obwohl es das Denken selbst war, das sie geschaffen hat.

„Was ist daran so falsch?“, könnten wir fragen und den Advocatus Diaboli spielen. „Wenn der rationale Verstand uns im Alltag hilft, wenn er uns eine grundlegende Orientierung im Leben gibt, uns hilft, praktische Probleme zu lösen usw., warum sollten wir dann etwas dagegen haben?“ Warum sollte man darüber so reden, als wäre es etwas Schlimmes? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich, dass diese Trennungen, diese Unterscheidungen, diese Grenzen, die wir so ernst nehmen, unwirklich sind, da sie lediglich eine Projektion des rationalen Geistes darstellen (und darüber hinaus eine Projektion des rationalen Geistes, die wir nicht durchschauen können und in der wir daher permanent gefangen sind).

Wenn wir eine ganze Reihe künstlicher Kategorien als fundamental, als der Natur der Dinge innewohnend betrachten (anstatt sie als willkürlich auferlegt zu sehen, was sie ja sind), dann bedeutet das, dass wir „in einer unwirklichen Welt leben“. Wenn wir die durch das Denken geschaffenen Trennungen nicht durchschauen können, sondern sie im Gegenteil als Orientierungshilfe, als Mittel zur Navigation in der Realität nutzen, dann bedeutet das, dass wir uns der Tatsache völlig unbewusst sind, dass wir in einer virtuellen Realität leben. Und falls das noch nicht schlimm genug klingt: Die Tatsache, dass wir uns im Grunde an den Kategorien und Trennungen des Denkens orientieren, bedeutet, dass wir in der Welt auf der Grundlage einer fiktiven Identität leben. Auch wir selbst werden auf der Grundlage der vom Denken erfundenen Trennungen konstruiert…

Obwohl es vielleicht viel zu offensichtlich erscheint, es tatsächlich auszusprechen: Die Simulation ist dem Original, dem „Unsimulierten“, unterlegen. Sie bleibt hinter ihm zurück. Wir könnten vielleicht an einen Standbesitzer auf einem Straßenmarkt denken, der superbillige Fälschungen teurer Markenartikel verkauft, aber das wäre bei Weitem nicht extrem genug. Das würde der Schärfe der Situation nicht gerecht werden. Ein besseres Beispiel wäre der Unterschied zwischen einer echten Banknote und einer Fälschung – die Fälschung ist eindeutig nicht nur „minderwertiger“ als das Original, sondern völlig wertlos. Wir können nichts damit anfangen (es sei denn, wir finden einen Trottel oder ein Opfer, dem wir sie unterjubeln können). Die Kopie hat in diesem Fall keinen Wert, aber sie gibt vor, einen zu haben; sie ist ein „Räuber“ oder „Bandit“, da sie den Wert beansprucht, der nur dem wahren Gegenstand zusteht (d. h. dem „Kaiser“ in der Zen-Geschichte). Sie hat keinen eigenen Ruhm, mit dem sie prahlen könnte. Dasselbe können wir daher auch über die Simulation der Realität durch den Geist sagen – jeder Wert, den wir ihr zuschreiben, ist völlig irrtümlich (weil es dort überhaupt keinen Wert gibt, genauso wenig wie Wärme in einem Bild eines lodernden Feuers). Der einzige Sinn in der Simulation ist tautologischer Sinn, hohler Sinn, und das ist überhaupt kein Sinn. Die vom Geist erschaffene virtuelle Realität ist nicht nur „sinnleer“, sondern verdeckt, indem sie sich selbst alle Ehre zuschreibt, den Sinn oder Wert, der tatsächlich vorhanden ist. In alchemistischen/symbolischen Begriffen können wir sagen, dass dies das Werk des „siebenköpfigen Drachens“ ist (d. h. „Satan“ oder „das Tier“ in der Offenbarung). Das folgende Zitat stammt von Jung: GW Band 14. Mysterium Coniunctionis. [Ref. – Offb. 20:2. Honorius von Autun, Speculum de mysteriis ecclesiae (Migne, P.L., Band 172, Spalte 937)].

Der siebenköpfige Drache, der Fürst der Finsternis, zog mit seinem Schwanz einen Teil der Sterne vom Himmel herab, bedeckte sie mit einer Wolke der Sünden und legte den Schatten des Todes über sie.

Die Simulation der Realität (die das Ergebnis des Denksystems ist) ist nichts anderes als „der Schatten des Todes“, eine Aussage, die ihresgleichen sucht. Dies ist nicht nur eine trockene, alte philosophische Idee, mit der wir uns zum Zeitvertreib beschäftigen können – das ist Sprengstoff. Es ist eine Offenbarung, eine Erkenntnis, die wie ein Blitz einschlägt. Wir werden nach dieser Erkenntnis nie wieder dieselben sein. Wir begannen diese Diskussion mit der Aussage, dass alle logischen Systeme hohl sind und keinerlei Inhalt in Bezug auf etwas tatsächlich Reales besitzen. Wir haben dargelegt, dass das Ergebnis eines logischen Prozesses (jedes logischen Prozesses) immer tautologisch sein wird (das heißt, es sagt uns überhaupt nichts aus, obwohl wir glauben, dass es das tut).

Dieser Punkt ist nicht allzu schwer zu verstehen (oder nachzuvollziehen) – die Idee des „Lebens in einer Simulation“ ist dank der Science-Fiction-Werke von Philip K. Dick und der Cyberpunk-Bewegung der 80er und 90er Jahre (die beide maßgeblich in die Populärkultur vorgedrungen sind) ein fester Bestandteil unseres gegenwärtigen kulturellen Erbes. Was wir hier jedoch betrachten, ist noch düsterer – anstatt von einer Simulation zu sprechen, die relativ neutral klingt, sprechen wir nun vom Fürsten der Finsternis, dem Inbegriff und der Quelle allen Übels, der unangefochten über diese arme Welt herrscht. Dies ist in der Tat eine sehr düstere Sicht der Dinge, bezeugt durch zahlreiche Verweise auf die Herrschaft Satans über die Erde im Alten und Neuen Testament.

Wenn die Realität selbst „Gott“ ist (hier betrachten wir die Dinge etwas pantheistisch), dann können wir sagen, dass die verstandes-basierte virtuelle Realität uns vom Göttlichen, vom Grund unseres Seins trennt und uns dazu bringt, unser Leben „abseits unseres eigenen Seins“ zu führen, was – laut Augustinus – dazu führt, dass wir in einem Zustand des Mangels in Bezug auf Gott existieren. Augustinus von Hippo argumentiert, dass das Böse keine eigenständige Sache ist, sondern die Abwesenheit der allgegenwärtigen Güte Gottes (oder „des Grundes unseres Seins“ oder der Realität, wenn wir es so ausdrücken wollen). Im Buch XII, Kapitel 7 von „De civitate Dei“ sagt er Folgendes:

Niemand braucht daher nach einer wirkenden Ursache für einen bösen Willen zu suchen. Da die Wirkung in der Tat ein Mangel ist, sollte die Ursache als mangelhaft bezeichnet werden.

Dieses Verständnis der Simulation spiegelt also nicht nur Philip K. Dick und die Cyberpunk-Bewegung wider, sondern auch die Bibel, den Gnostizismus, die mittelalterliche Theologie und die Schriften der Alchemisten, um nur einige Verbindungen zu nennen. Wir sind jedoch sehr weit von diesem besonderen Verständnis der Rolle des Denkens (oder der Logik) in unserem gegenwärtigen psychologischen Ansatz entfernt… Unser heutiger Ansatz in der Psychologie besteht darin, „Gedanken zu nutzen, um die durch Gedanken verursachten Probleme zu heilen“. Unser Ansatz ist es, den Fürsten der Finsternis auf den Thron zu setzen und ihn in allen Dingen um Rat und Führung zu bitten! Wir lassen den Teufel (metaphorisch gesprochen) die Mittel ersinnen, mit denen wir von dem Übel geheilt werden sollen, das er uns selbst zugefügt hat. Das ist ein Zeichen der Zeit – wir ermächtigen Graf Dracula freudig, eine Spitzenposition in der nationalen Blutbank zu übernehmen, und niemand sieht etwas Falsches daran. Wir vergöttern unsere Unterdrücker und versuchen, ihnen bei jeder Gelegenheit zu gefallen.

Das denkende Bewusstsein – obwohl wir es nicht erkennen – ist die Simia Dei, der „Affe Gottes“, und der Sinn seiner falschen Schöpfungen (seiner generischen Produkte) besteht darin, uns zu verspotten und zu quälen. Uns etwas anderes einzureden, würde diese Demütigung nur noch verstärken und uns noch größere Narren aus uns machen. Der Witz wird so lange wie möglich aufrechterhalten, und es ist ein Witz, der sich gegen uns richtet, ein Witz auf unsere Kosten. Er wird bis zum letzten Tropfen ausgeschöpft. Zu erkennen, dass das Denken sinnvollerweise als Satan, als das Tier, als der in der Offenbarung erwähnte siebenköpfige Drache symbolisiert werden kann und dass diese Symbolik höchst aufschlussreich ist, erfordert eine so radikale Umkehrung unserer gewöhnlichen, konventionellen Sicht der Dinge, dass wir sicher sein können, dass dies niemals geschehen wird. Gebildete Menschen werden über solchen Unsinn lauthals lachen. Wie kann das denkende Bewusstsein Satan sein? Wie „unwissenschaftlich“ ist das denn? Das Denken ist unser bester und treuester Freund, sagen wir…

Und doch – wie Augustinus sagt – gibt es nirgends einen tatsächlichen „Urheber des Bösen“, sondern lediglich die vollständige Abwesenheit von allem Guten. Es gibt keine Dunkelheit, nur die Abwesenheit von Licht. Die Denkweise des menschlichen Geistes ist jedoch so beschaffen, dass er etwas braucht, gegen das er ankämpfen kann; nur so kann er funktionieren – wenn etwas nicht stimmt, muss das, was die Probleme verursacht, bekämpft und überwunden werden. So denken wir darüber. Auf diese Weise haben wir das Gefühl, etwas zu tun, und das verschafft uns Befriedigung. Wir versuchen, „das Problem zu lösen“. Was wir – in unserer zweidimensionalen Kultur – nicht erkennen, ist, dass das Problem der denkende Geist selbst ist, der uns einredet, dass es ein Problem gibt, das gelöst werden muss, was sofort bedeutet, dass wir seine Hilfe und Führung in Anspruch nehmen werden. Wir begeben uns in seine Hände. Das eigentliche Problem ist, dass wir keine Autonomie besitzen, und das Denken kann uns dabei nicht helfen, denn es ist das Denken selbst, das uns diese Autonomie überhaupt erst genommen hat.


Abschied vom Leben – Gespräche mit einer Sterbenden
Susanne Fleer



Das Absurde, der Selbstmord und der glückliche bewusste Mensch von Albert Camus
aus “Der Mythos des Sisyphos”

Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien habe – kommt erst später. Das sind Spielereien; zunächst heißt es Antwort geben. Und wenn es wahr ist, daß – nach Nietzsche – ein Philosoph, der ernst genommen werden will, mit gutem Beispiel vorangehen müsse, dann begreift man die Wichtigkeit dieser Antwort, da ihr dann die endgültige Tat folgen muß. Für das Herz sind das unmittelbare Gewißheiten, man muß sie aber gründlich untersuchen, um sie dem Geiste deutlich zu machen.

Wenn ich mich frage, weswegen diese Frage dringlicher als irgendeine andere ist, dann antworte ich: der Handlungen wegen, zu denen sie verpflichtet. Ich kenne niemanden, der für den ontologischen Beweis gestorben wäre. Galilei, der eine schwerwiegende wissenschaftliche Wahrheit besaß, leugnete sie mit der größten Leichtigkeit ab, als sie sein Leben gefährdete. In gewissem Sinne tat er recht daran. Diese Wahrheit war den Scheiterhaufen nicht wert. Ob die Erde sich um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde – das ist im Grunde gleichgültig. Um es genau zu sagen: das ist eine nichtige Frage. Dagegen sehe ich viele Leute sterben, weil sie das Leben nicht für lebenswert halten. Andere wieder lassen sich paradoxerweise, für die Ideen oder Illusionen umbringen, die ihnen einen Grund zum Leben bedeuten (was man einen Grund zum Leben nennt, das ist gleichzeitig ein ausgezeichneter Grund zum Sterben).

Also schließe ich, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens die dringlichste aller Fragen ist. Wie sie beantworten? Über alle wesentlichen Probleme (darunter verstehe ich Probleme, die möglicherweise das Leben kosten, oder solche, die den Lebenswillen steigern) gibt es wahrscheinlich nur zwei Denkweisen: die von Lapalisse und die von Don Quijote. Nur das Gleichgewicht von Evidenz und Schwärmerei kann uns gleichzeitig Erregung und Klarheit verschaffen. Bei einem so bescheidenen und zugleich derart mit Pathos belasteten Thema sollte also an die Stelle der gelehrten, klassischen Dialektik eine bescheidenere Geisteshaltung treten, die ebenso vom gesunden Menschenverstand wie vom Mitgefühl ausgeht.

Man hat den Selbstmord immer nur als soziales Phänomen dargestellt. Hier dagegen geht es darum, zunächst nach der Beziehung zwischen individuellem Denken und Selbstmord zu fragen. Eine solche Tat bereitet sich in der Stille des Herzens mit demselben Anspruch vor wie ein bedeutendes Werk. Der Mensch selber weiß nichts davon. Eines Abends schießt er oder geht ins Wasser. Von einem Immobilienhändler, der sich umgebracht hatte, erzählte man mir einmal, er habe vor fünf Jahren seine Tochter verloren und habe sich seitdem sehr verändert, die Geschichte “habe ihn untergraben”.

Einen treffenderen Ausdruck kann man sich nicht wünschen. Wenn man zu denken anfängt, beginnt man untergraben zu werden. Die Gesellschaft hat mit diesen Anfängen nicht viel zu tun. Der Wurm sitzt im Herzen des Menschen. Dort muß er auch gesucht werden. Diesem tödlichen Spiel, das von der Erhellung der Existenz zur Flucht aus dem Leben fährt, muß man nachgehen, und man muß es begreifen.

Ein Selbstmord kann vielerlei Ursachen haben, und im allgemeinen sind die sichtbarsten nicht eben die wirksamsten gewesen. Ein Selbstmord wird selten aus Überlegung begangen (obwohl diese Hypothese nicht ausgeschlossen ist). Meist löst etwas Unkontrollierbares die Krise aus. Die Zeitungen sprechen dann oft von “heimlichem Kummer” oder von “unheilbarer Krankheit” . Diese Erklärungen haben ihre Geltung. Man müßte aber wissen, ob nicht am selben Tage ein Freund mit dem Verzweifelten in einem gleichgültigen Ton gesprochen hat. Das ist der Schuldige. Dergleichen kann nämlich Genügen, um allen Ekel und allen latenten Überdruß auszulösen. Wenn es jedoch schmierig ist, den genauen Zeitpunkt, den winzigen Schritt anzugeben, mit dem der Geist sich für den Tod entschieden hat, so ist es leichter, aus der Tat an sich ihre Voraussetzungen zu erschließen.

Sich in bestimmter Absicht, wie im Melodrama, umbringen heißt: ein Geständnis ablegen. Es heißt gestehen, daß man vom Leben überwältigt wird oder das Leben nicht begreift. Wir wollen aber in diesen Analogien nicht zu weit gehen und zur alltäglichen Ausdrucksweise zurückkehren. Es handelt sich einfach um das Geständnis, daß es “nicht lohnt”. Leben ist naturgemäß niemals leicht. Aus vielerlei Gründen, vor allem aus Gewohnheit, tut man fortgesetzt Dinge, die das Dasein verlangt.

Freiwilliges Sterben hat zur Voraussetzung, daß man wenigstens instinktiv das Lächerliche dieser Gewohnheit erkannt hat, das Fehlen jedes tieferen Grundes zum Leben, die Sinnlosigkeit dieser täglichen Betätigung, die Nutzlosigkeit des Leidens. Was für ein unberechenbares Gefühl raubt nun dem Geist den lebensnotwendigen Schlaf? Eine Welt, die sich – wenn auch mit schlechten Gründen – deuten und rechtfertigen läßt, ist immer noch eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Verstoßensein gibt es für ihn kein Entrinnen, weil er der Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtes Land beraubt ist. Dieser Zwiespalt zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Schauspieler und seinem Hintergrund ist eigentlich das Gefühl der Absurdität. Da alle normalen Menschen an Selbstmord gedacht haben, wird es ohne weiteres klar, daß zwischen diesem Gefühl und der Sehnsucht nach dem Nichts eine direkte Beziehung besteht.

Gegenstand dieses Versuchs ist eben dieser Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Selbstmord, die genaue Feststellung, in welchem Maße der Selbstmord für das Absurde eine Lösung ist. Man kann den Grundsatz aufstellen: die Handlungsweise eines aufrichtigen Menschen müsse von dem bestimmt werden, was er für wahr hält. Der Glaube an die Absurdität des Daseins sollte demnach die Richtschnur seines Verhaltens sein. Mit berechtigter Neugier fragt man sich offen und ohne falsches Pathos, ob eine derartige Erkenntnis verlangt, daß man einen unbegreiflichen Zustand so rasch wie möglich aufgebe. Wohlgemerkt: ich spreche hier von Menschen, die fähig sind, mit sich selbst ins reine zu kommen.

Klar formuliert mag dieses Problem ebenso einfach wie unlösbar erscheinen. Aber man vermutet zu Unrecht, daß einfache Fragen ebenso einfache Antworten nach sich ziehen und daß das Evidente nur Evidentes umschließt. Auch wenn man umgekehrt die Frage stellt, ob man sich umbringen soll oder nicht, scheint es a priori nur zwei philosophische Lösungen zu geben: ein Ja und ein Nein. Das wäre jedoch zu schön. Wir müssen von den Menschen ausgehen, die fortgesetzt Fragen stellen und keine Schlüsse ziehen. Ich sage das fast ohne Ironie: es handelt sich um die Mehrzahl. Ebenso sehe ich, daß die Neinsager so handeln, als dächten sie ja.

Wenn ich mir Nietzsches Kriterium zu eigen mache, dann denken sie tatsächlich auf die eine oder andere Weise ja. Bei Selbstmördern dagegen kommt es oft vor, daß sie vom Sinn des Lebens überzeugt waren. Diese Widersprüche sind konstant. Man kann sogar sagen, daß sie immer dort besonders lebendig gewesen sind, wo ganz im Gegenteil Logik höchst begehrenswert gewesen wäre. Es ist ein Gemeinplatz, die philosophischen Theorien mit dem Verhalten derer zu vergleichen, die sich zu ihnen bekennen. Es muß aber betont werden, daß keiner von jenen Denkern, die dem Leben jeden Sinn absprachen, seine Logik so weit getrieben hat, das Leben selber auszuschlagen – außer Kirilow, der der Literaturangehört, außer Perigrino, der der Legende entstammt, und außer Jules Lequier, der das Geschöpf einer Hypothese ist. (…)

Muß nun angesichts dieser Widersprüche und Unklarheiten angenommen werden, daß zwischen der Meinung, die man vom Leben haben kann, und dem Schritt, mit dem man es verläßt, keinerlei Beziehung herrscht? Wir wollen hier nichts übertreiben. In der Bindung des Menschen an sein Leben gibt es etwas, das stärker ist als alles Elend der Welt. Die Entscheidung des Körpers gilt ebensoviel wie eine geistige Entscheidung, und der Körper scheut die Vernichtung. Wir gewöhnen uns ans Leben, ehe wir uns ans Denken gewöhnen.

Bei dem Wettlauf, der uns dem Tode täglich etwas näher bringt, hat der Körper unwiderruflich den Vorsprung. Das Wesentliche dieses Widerspruchs liegt letztlich im “Ausweichen” , wie ich es nennen möchte; es ist nämlich mehr und gleichzeitig weniger als die “Zerstreuung” , von der Pascal spricht. Ausweichen – das ewige Spiel. Das typische Ausweichen, das tödliche Ausweichen, das dritte Thema dieses Versuchs – das ist die Hoffnung. Die Hoffnung auf ein anderes Leben, das man sich “verdienen” muß, oder die Betrügerei derer, die nicht für das Leben an sich leben, sondern für irgendeine große Idee, die über das Leben hinausreicht, es erhöht, ihm einen Sinn gibt und es verrät. (…)

Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst, wieder hinunterrollte. Sie hatten mit einiger Berechtigung bedacht, daß es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit.

Wenn man Homer Glauben schenken will, war Sisyphos der weiseste und klügste unter den Sterblichen. Nach einer
anderen Überlieferung jedoch betrieb er das Gewerbe eines Straßenräubers. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Über die Gründe, weshalb ihm in der Unterwelt das Dasein eines unnützen Arbeiters beschert wurde, gehen die Meinungen auseinander. Vor allem wirft man ihm eine gewisse Leichtfertigkeit im Umgang mit den Göttern vor. Er gab ihre Geheimnisse preis. Egina, die Tochter des Asopos, wurde von Jupiter entführt. Der Vater wunderte sich über ihr Verschwinden und beklagte sich darüber bei Sisyphos. Der wußte von der Entführung und wollte sie Asopos unter der Bedingung verraten, daß er der Burg von Korinth Wasser verschaffte. Den himmlischen Blitzen zog er den Segen des Wassers vor. Dafür wurde er in der Unterwelt bestraft. Homer erzählt uns auch, Sisyphos habe den Tod in Ketten gelegt. Pluto konnte den Anblick seines stillen, verödeten Reiches nicht ertragen. Er verständigte den Kriegsgott, der den Tod aus den Händen seines Überwinders befreite.

Außerdem heißt es, Sisyphos wollte, als er zum Sterben kam, törichterweise die Liebe seiner Frau erproben. Er befahl ihr, seinen Leichnam unbestattet auf den Markt zu werfen. Sisyphos kam in die Unterwelt. Dort wurde er von ihrem
Gehorsam, der aller Menschenliebe widersprach, derart aufgebracht, daß er von Pluto die Erlaubnis erwirkte, auf die
Erde zurückzukehren und seine Frau zu züchtigen. Als er aber diese Welt noch einmal geschaut, das Wasser und die Sonne, die warmen Steine und das Meer wieder geschmeckt hatte, wollte er nicht mehr ins Schattenreich zurück. Alle Aufforderungen, Zornausbrüche und Warnungen fruchteten nichts. Er lebte noch viele Jahre am Golf, am leuchtenden Meer, auf der lächelnden Erde und mußte erst von den Göttern festgenommen werden. Merkur packte den Vermessenen beim Kragen, entriß ihn seinen Freunden und brachte ihn gewaltsam in die Unterwelt zurück, in der sein Felsblock schon bereit lag.

Kurz und gut: Sisyphos ist der Held des Absurden. Dank seinen Leidenschaften und dank seiner Qual. Seine Verachtung der Götter, sein Haß gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter aufgewogen, bei der sein ganzes Sein sich abmüht und nichts zustande bringt. Damit werden die Leidenschaften dieser Erde bezahlt. Über Sisyphos in der Unterwelt wird uns nichts weiter berichtet. Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden. So sehen wir nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinaufzuwälzen und mit ihm wieder und wieder einen Abhang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloß legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganz menschliche Selbstsicherheit zweier erdbeschmutzter Hände. Schließlich ist nach dieser langen Anstrengung (gemessen an einem Raum, der keinen Himmel, und an einer Zeit, die keine Tiefe kennt) das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muß. Er geht in die Ebene hinunter.

Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels. Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewußt ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kraft gäbe? Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen der Arbeiter bewußt wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstiegs nach. Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.

Wenn der Abstieg so manchen Tag in den Schmerz führt, er kann doch auch in der Freude enden. Damit wird nicht zuviel behauptet. Ich sehe wieder Sisyphos vor mir, wie er zu seinem Stein zurückkehrt und der Schmerz von neuem beginnt. Wenn die Bilder der Erde zu sehr im Gedächtnis haften, wenn das Glück zu dringend mahnt, dann steht im Herzen des Menschen die Trauer auf: das ist der Sieg des Steins, ist der Stein selber. Die gewaltige Not wird schier unerträglich. Unsere Nächte von Gethsemane sind das. Aber die niederschmetternden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden. So gehorcht Ödipus zunächst unwissentlich dem Schicksal. Erst mit Beginn seines Wissens hebt seine Tragödie an. Gleichzeitig aber erkennt er in seiner Blindheit und Verzweiflung, daß ihn nur noch die kühle Hand eines jungen Mädchens mit der Welt verbindet.

Und nun fällt ein maßloses Wort: “Allen Prüfungen zum Trotz – mein vorgerücktes Alter und die Größe meiner Seele sagen mir, daß alles gut ist.” So formuliert der Ödipus des Sophokles (wie Kirilow bei Dostojewski) den Sieg des Absurden. Antike Weisheit verbindet sich mit modernem Heroismus. Man entdeckt das Absurde nicht, ohne in die Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben. “Was, aus so schmalen Wegen…?” Es gibt aber nur eine Welt. Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Irrtum wäre es, wollte man behaupten, daß das Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringe. Wohl kommt es vor, daß das Gefühl des Absurden dem Glück entspringt. “Ich finde, daß alles gut ist”, sagt Ödipus, und dieses Wort ist heilig. Es wird in dem grausamen und begrenzten Universum des Menschen laut. Es lehrt, daß noch nicht alles erschöpft ist, daß noch nicht alles ausgeschöpft wurde. Es vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der mit dem Unbehagen und mit der Vorliebe für nutzlose Schmerzen in sie eingedrungen war. Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß.

Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen. Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches, Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs – ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.

Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.