
Wir sind halt Idioten, Roman
188 Seiten
Blick ins Buch
Als ich in den Fernsehraum komme, ist mein Platz besetzt. Ein neues Gesicht, wie fast immer an einem Wochenende.
„Und?“, fragt Marta. „Wie war dein Tag?“
„Schön“, sage ich, „sehr schön.“
„Max, das ist Ela.“
„Hallo!“, sage ich.
Die Neue antwortet überhaupt nicht. Blickt nicht mal auf. Sitzt nur zusammengekauert auf meinem Stuhl und glotzt auf die Fliesen vor ihren Füßen, Fingernägel kauend. Manche schämen sich eben, hier gelandet zu sein. Die kommen ja hierher, weil sie total vereinsamt sind. Wenn sie sich nicht mehr aus dem Haus trauen, spinnen sie sich nicht nur immer weiter ein in ihre eigene Welt – mit der Zeit vergessen sie auch, wie man sich zu verhalten hat unter Menschen. Sie werden einfach immer komischer. Ein Teufelskreis. Bis sie es irgendwann nicht mehr aushalten so allein in ihrer eigenen Welt. Dann schlucken sie eine Schachtel Tabletten oder suchen Hilfe.
Wenig später, als alle sitzen, hat Ela ihren Zusammenbruch, während Brad Pitt alias Tristan gerade versucht, das Kälbchen aus dem Stacheldraht zu befreien, in dem es sich verfangen hat, genau wie Tristans kleiner Bruder Samuel damals im Krieg gegen die Deutschen. Später besucht Susannah (Samuels Ex-Verlobte) Tristan im Gefängnis, das ist meine Lieblingsszene, Susannah berichtet von ihrer ersten öffentlichen Rede als Gouverneursfrau (sie hat Alfred, Tristans älteren Bruder geheiratet, obwohl sie Tristan liebt), und die Tränen brechen den Wortwall, und alles Gewesene atmet noch einmal Gegenwart, die zukunftslos ist, das wissen beide, und da ist die Liebe, und da ist der Schmerz, der ihre Tiefe ist, da ist die zitternde Hand und das ewige Gitter und der Abschied für immer und nie.
Ela jedenfalls hat ihren Heulkrampf nicht des armen Kälbleins wegen, wie alle vermuten, sondern, wie sich ein paar Szenen weiter herausstellt, aus Paranoia. Sie meint, wir könnten sie nicht leiden und sprächen deshalb kein Wort mit ihr. Dabei wollen alle nur den Film sehen, wie ihr Marta, die Mutter Theresa der Station, sofort versichert, Händchen haltend, und alle nicken und bald ist alles gut und Ela strahlt und stopft sich einen Berliner ins Maul.
Lügen sind die beste Therapie.
Da wir beide noch nicht schlafen können, setzen Karl und ich uns nach dem Film im Aufenthaltsraum ans Schachbrett. Es sieht mal wieder nach einer klaren Niederlage für ihn aus. Obwohl er der bessere Spieler ist. Ehemaliger Vereinsspieler. Zudem liest er dauernd irgendwelche Schachbücher und studiert die Partien der Großmeister. Ich eröffne wie immer nach Lust und Laune, aber Karl weiß gleich, wie der Hase läuft: „Ah, heute spielst du französisch! Gut, gut!“
Da er nebenbei mit Richard über die geistigen Wurzeln der Pädagogik diskutiert, habe ich dennoch leichtes Spiel. „Kant, ja, sicher. Aber was ist mit Aristoteles? Den unterschlägst du einfach!“
Nachts liegt Karl genauso oft wach wie ich. Wenn er denkt, ich schlafe, schleicht er raus und läuft im Flur hin und her und wieder hin. Oder er bleibt im Bett liegen und wälzt sich von einer Seite zur andern, bevor er’s nicht mehr aushält und das Licht anknipst und zum Wandschrank hastet, um Ewigkeiten nach irgendeiner Antwort zu kramen, Schläfen reibend. Wenn er merkt, dass ich auch wach liege, macht er gleich das Licht an. Dann weiht er mich ein, welche Frage ihn gerade beschäftigt. Es ist immer was anderes: Wo im Gehirn sitzt das Gefühlszentrum. Welchen Gesetzen folgt das Denken. Warum kam es zum Urknall. Wie lange lebt ein Schmetterling. Was würde Hegel zur Gentechnik sagen. Wie entsteht Krebs. Wie ist die sizilianische Eröffnung am besten zu kontern. Wer hat die Bibel geschrieben. Wie kann es (verdammt noch mal) sein, dass wir hier sehen können, was eine Kamera am andern Ende der Welt gerade filmt. Karl ist dauernd mit seinen Karteikarten beschäftigt. Mittlerweile ist der halbe Wandschrank voll, zumal er jedes Wochenende mehr aus seiner Sammlung anschleppt. „Lies ruhig drin“, sagt er, „aber bring nichts durcheinander!“ Dabei ist alles durcheinander. Man findet nie, was man sucht – obwohl die Karten alphabetisch geordnet sind. Einmal zum Beispiel will ich etwas zur Rubrik Schach lesen – und was finde ich:
Schach, Samuel, Bangkok Post, 24.12.03: BIKER KILLED IN CROCODILE ATTACK, 80 kilometres from Darwin, Australia: „…2 minutes later the croc brought Brett to the surface and pretty much showed him off to us and off he swam.“
Karl erklärt: „Die Kategorisierung nach Wissensbereichen hat einfach nicht funktioniert, da gab es zu viele Überschneidungen! Du musst nach dem Familiennamen des Autors suchen! Wo mir der Autor nicht bekannt ist, kategorisiere ich nach Informationsquellen.“ Folglich findet auch Karl nie, was er sucht, wenn er nachts die Kartei durchgeht, sondern irgendwelche anderen Informationen, an denen er dann hängen bleibt. Er schweift einfach ab. Letztlich vergisst er dann die ursprüngliche Frage, holt eine leere Karteikarte hervor und notiert die neue Frage unter dem entsprechenden Stichwort. „Das muss ich mal in Ruhe recherchieren.“
„Man kann nicht alles wissen“, sage ich ihm oft.
„Aber das“, sagt er dann, „das ist doch wichtig!“
Oft liegen wir auch nur und philosophieren. Stundenlang. Was ist Zeit. Was ist Kunst. Was ist Gott. Was ist Liebe. Oder wir sprechen über persönliche Dinge. Manchmal erzählt Karl von seinem Leben, von seiner ersten Einweisung.
„Ich war damals Anfang zwanzig und für Kunstgeschichte und Biologie eingeschrieben, habe mich aber hauptsächlich mit chinesischer Philosophie beschäftigt. Irgendwann, als ich im Garten saß, stand er dann vor mir: Laotse höchstpersönlich! Zuerst hab ich gelacht. ,Das soll wohl ein Scherz sein!’, hab ich zu ihm gesagt. Es war aber kein Scherz…“
Mit den Jahren hat Karl den Spieß umgedreht. Behauptet er zumindest. „Den Stimmen und Visionen ihren Platz zugewiesen“ habe er, sagt er, „und die vermeintlichen Einschränkungen, die sehe ich von der anderen Seite her, und dadurch öffnen sie sich als Räume der Möglichkeiten.“
Meiner Ansicht nach ist Karl ein Pionier in dieser Hinsicht. Wobei ja jeder Pionier ist, der geistiges Terrain betritt, das sich jenseits aller existierenden Landkarten befindet. Es hat ja auch jeder Halluzinationen, was sind denn Gedanken sonst, was sind Erinnerungen und Träume, wer sagt denn, dass wir nicht alle immer nur Gespenster sehen?
Später im Bett notiere ich:
„Der Geist ist der leere Raum, in den die Fragenden fallen und die Antwortenden, er ist der Ozean, in dem das Denken schwimmt und so mancher ertrinkt. Nur ist das Ertrinken nicht bloß ein Ende. Von der anderen Seite her betrachtet ist es ein neuer Anfang.“
*
Der Weg von der Hauptstraße zum Kloster ist breit genug und sogar geteert. Man weiß nicht, wieso keins der Sammeltaxis einbiegt. Also Fußmarsch in sengender Hitze mitsamt Reisetasche. Schiller nimmt’s als ersten Härtetest. Die Landschaft: nichts als Kokospalmen, so weit das Auge reicht, rechts wie links. Offenbar Plantagen. Hier und da ein Haus. Ein Hof. Ein Hahn. Ein Huhn. Ein Hund. Dann plötzlich ist die Straße nur noch Kiesweg, der sich durch ungezügelt wachsendes Grün schlängelt.
Ein kleiner Rucksack wäre optimal gewesen…
Silent Retreat. Für Schiller ist es das erste Mal. Der Entschluss fiel von selbst. Bei der Zwischenlandung in Bangkok kam Schiller wider Willen mit einem jungen deutschen Pärchen ins Gespräch, das neben ihm an der Bar saß. Der Blondschopf schielte ständig zu Schiller hinüber. „Deutscher?“, fragte er schließlich.
„Ja.“
„Und wohin geht’s, wenn ich fragen darf?“
„Rangoon.“
„Da kommen wir gerade her!“
Schiller nickte und tat, als lese er in der Getränkekarte. Ihm war nicht nach Unterhaltung. „Gott, tut das gut, endlich mal wieder ein Bier zu trinken!“, fing der Blondschopf wieder an und blickte Schiller erwartungsvoll an. Schiller winkte dem Barmann für die Rechnung. Aber er wollte nicht unhöflich sein – ob es in Burma kein Bier gebe, fragte er und zählte schon die Scheine.
„Doch, doch“, sagte der Blondschopf lachend. „Aber wir waren im Kloster.“
„Ja“, stimmte seine rothaarige Gefährtin ein. „Es war eine Erfahrung!“
Was Schiller von den beiden weiß: Man lebt für zehn Tage vollkommen abgeschottet von der Außenwelt. Es darf kein einziges Wort gesprochen werden. Kein Strom, kein Telefon, keine Musik, keine Bücher, nicht einmal selber schreiben ist erlaubt. Ansonsten gelten übliche Klosterregeln: Keine Nahrungsaufnahme nach dem Mittag. Verzicht auf jedweden Luxus – sprich: kein heißes Bad, keine Hautcreme, keine Federkernmatratze, kein Bierchen nach getaner Arbeit, keine Zigarette danach, überhaupt kein Danach, denn Verbot von Sexualität jedweder Form. „Ganz schön hart“, lächelte die Rothaarige, „das durchzuziehen!“
Sie kennt Schiller nicht. Schiller ist nicht der Typ, der einmal Vorgenommenes in den Wind schlägt. Zehn Tage? Ein Klacks! Und ein guter, ein vernünftiger Start in ein neues Leben. Schließlich will er die Zeit in Burma mit Anstand hinter sich bringen. Buddhismus – warum nicht? Man hört viel davon, nicht nur in den Medien, auch von Patienten, sogar eine Kollegin ist auf dem Trip. Anreiz genug, der Sache auf den Grund zu gehen. Außerdem drängt es Schiller geradezu, etwas zu tun, was mit J unvorstellbar gewesen wäre – denn alles andere geriete schlichtweg zur Farce, zur bittersüßen Unerträglichkeit. Mit J wäre er niemals im Kloster gelandet, natürlich nicht. Man wäre per Jeep durch das Land gefahren, J auf dem Beifahrersitz, den Reiseführer auf dem Schoß, die linke Hand auf Schillers Bein, ihre großen Augen hätten die Landschaft aufgesogen und Schiller hätte immer wieder anhalten müssen, damit sie aus dem Wagen hätte hüpfen und ein paar Meter in ein Reisfeld stapfen können, bis zu den Knien im Schlamm versinkend, lachend.
Vom Fußmarsch war keine Rede gewesen…
Der Blondschopf hat alles korrekt aufgezeichnet. Schon von Weitem liest Schiller die Inschrift auf dem kleinen Holzschild: Chan Yakitha.
Der junge Mönch am Eingangstor lächelt freundlich und führt Schiller zu einer kleinen Sitzecke im Schatten. Eine Nonne in weißer Kutte, kahlgeschoren wie die Mönche, reicht lächelnd Tee und eine Auflistung der Hausregeln. Zu jeder Regel liest Schiller das Kleingedruckte. Regel Nummer eins lautet, man solle im Schweigen verweilen. Reden sei eine große Gefahr für den Fortschritt zur Innerlichkeit, so die klein gedruckte Erläuterung. Eine Plauderei von fünf Minuten, heißt es, könne die Konzentration für den ganzen Tag zerstören — Die Statuten sind streng, aber Schiller unterschreibt den Vertrag ohne zu zögern. Auf das Angebot der Nonne, seine Wertsachen im Safe zu deponieren, reicht er ihr Geldbörse und Reisepass. Dann zeigt sie noch auf einen Stapel Heftchen auf dem Tisch, die Lehren des Buddhas, vom Abt des Klosters verfasst, erklärt sie, und Schiller nickt zum Dank und nimmt ein Heft mit. Der Mönch weist den Weg. Vorbei an Kokospalmen, den Schlafstätten der Frauen und zwei kleinen Tempeln führt er Schiller zum Schlaftrakt der Männer. Durch ein großes Holztor geht es in den begrasten Innenhof. Da und dort auf der Wiese stehen runde Steinbecken, offenbar sammelt sich hier das Regenwasser. Ringsum die Zellen. Der Mönch reicht Schiller ein kleines Vorhängeschloss, zeigt auf eine der Zellen und geht.
Schiller öffnet die Holztür. Zwei mal zwei Meter, mehr misst der Raum nicht. Nur durch das kleine vergitterte Fensterchen fällt ein wenig Licht. Das Inventar: ein Moskitonetz, darunter eine Steinplatte, ungefähr auf Hüfthöhe, offenbar das Bett. Eine Rattanmatte ersetzt die Matratze, ein halbmondförmig geschnitztes Stück Holz das Kopfkissen. Ringsum Betonwände, dunkelgrau. Schiller stellt die Tasche ab, schließt die Tür, entrollt die Rattanmatte auf der Steinplatte, kriecht unter das Moskitonetz und legt sich nieder. Obschon es erst früher Abend ist. Obschon er die Begrüßungsrede des Abtes verpasst. Obschon es laut den Hausregeln verboten ist, tagsüber in der Zelle zu verweilen.
J — Schiller wusste nicht einmal, ob sie tatsächlich in der Maschine sitzen würde. Natürlich fuhr er trotzdem zum Flughafen. Den Moment, als sie endlich aus dem Zollbereich kam, wird er nie vergessen. Man hatte Angst, sie könnte jeden Moment zur Seite kippen mit ihrem Rucksack auf dem Rücken, der fast so groß war wie sie selbst.
Ihre braungebrannte Haut.
Das Strahlen in ihren Augen.
Sie sah so glücklich aus.
Ihr Lachen, als sie ihn sah. Ihr Winken.
Unvergesslich der Moment, als sie ihm in die Arme fiel, ihn umschlang und küsste. Es war anders als je, Schiller war anders als je, er zitterte am ganzen Leib und rang nach Atem wie ein an Land gespülter Fisch. Er drückte sie an sich, dass sie meinte, er breche ihr alle Rippen. Er liebte wie noch nie.
Unvergesslich auch die Fahrt nach Hause. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Die Monate ohne sie voll zärtlicher Sehnsucht, der Stress der letzten Nachtdienste, die Vorfreude auf die vier Wochen Urlaub, auf die gemeinsame Asienreise.
Dann ihre Bitte, kurz anzuhalten. Ein LKW fuhr links vorbei, der Fahrer hupte und gestikulierte wie wild, weil Schiller den Standstreifen blockierte. Js entschuldigendes Winken aus dem Beifahrerfenster, Js unbeschwertes Lachen. Ihre Hand, die in Schillers lag. Ihr zärtlicher Blick. Ihr ernster Blick. Ihr Geständnis. Kein Seitensprung. Liebe auf den ersten Blick. „Es ist einfach passiert! “
Was für eine Rolle das denn spiele, aber gut: ein Peruaner!
Weitere Fragen beantworte sie nicht. „Es macht keinen Sinn.“
Schillers Schreikrampf. Sein Heulkrampf. Ihr Streicheln seines Hinterkopfes, genau über der Narbe. „Es tut mir sehr leid.“
Sein Kollaps am Lenkrad.
Sie musste weiterfahren. Sie fuhr nicht nach Hause. Zu Hause gab es nicht mehr. Gegenüber dem Bahnhof hielt sie an. Wohin sie denn wollte, verriet sie nicht. Sie drückte noch einmal Schillers Hand, strich ihm noch einmal über das Haar. „Es tut mir sehr leid.“
Dann stieg sie aus, nahm den Rucksack vom Rücksitz und ging.
Schiller liegt flach auf dem Rücken. Regungslos, starr sogar der Blick. Wie ein Toter.
*
Sonntagmorgens ist kein Mensch auf der Straße, am Himmel hängt es grau und selbst die Schwalben haben keine Lust zu fliegen. Ich muss an den Braunbären denken und sein riesiges Maul, in dem Tristan verschwindet, Kopf zuerst, zum Glück. Dann sehe ich, sozusagen als Spiegelbild dazu, noch einmal den ganzen Berliner in Elas Maul verschwinden, und je länger ich mir das Bild anschaue, desto mehr erinnert mich Ela an Charlie im Spielfilm „The Whale“, nicht nur von der Fettleibigkeit her, sie sieht auch aus wie Brendan Fraser, von der Augenpartie über die Adlernase bis hin zum Igelschnitt. Assoziationen entstehen von ganz allein, wenn man nach dem Aufwachen die Arme hinterm Kopf verschränkt und an die Decke starrt. Als Film, der sich quasi selber dreht, nur für mich. Und mit mir als alle Protagonisten. Ich bin nicht nur Tristan, der aufgefressen wird, und Charlie, der sich totfrisst, ich bin auch Tristans Bär und Charlies Pizzalieferant und leider auch Ela. Aber als ich. Deshalb bleibe ich ja liegen, wenn jemand Neues auf Station gekommen ist. Weil ich jedes Mal anders auf mich schaue und mich dadurch quasi immer neu erfinde.
Ela betreffend muss ich mich nicht groß umsehen in mir, ich kann ein Lied von der Angst, nicht zu genügen, singen. Schon mit sieben konnte ich vor einer Mathearbeit die ganze Nacht nicht schlafen, und noch heute, mit 42, träume ich hin und wieder, ich falle durchs Abitur. Ich stürze auch ständig mit dem Flugzeug ab und fahre mit dem Auto vor die Wand. Totalschaden nicht als unglückliche Fügung, sondern infolge eigenen Totalversagens. Das alte Lied der Selbstverhexung, von der weißen Schlange gesungen, und der blaue Wal ist die fette Schutzschicht, die mit der Zeit wächst wider deine eigenen Bisse, wider dein eigenes Gift. Wider das heimliche Wissen, dass du krachend durchfällst in der Selbstbeurteilung und dieses Urteil auch gespiegelt siehst im Auge der Welt. Da kannst du dein Abitur mit 1,0 bestanden und das Zeugnis im Original vorliegen haben, du glaubst es dir trotzdem nicht. Weil du insgeheim weißt, dass es eigentlich nicht wahr ist, dass du in Wirklichkeit durchgefallen bist. In jeder Hinsicht. Das ist das Lied, das du immerzu im Hintergrund hörst, so dass du meinst, dass die Welt es singt. Natürlich täuschst du dich. Nicht etwa, weil die Welt dich anders sieht. Sondern, weil sie dich überhaupt nicht sieht. Du gehst der Welt am Arsch vorbei. Das ist natürlich zunächst einmal ein Schock. Aber es ist ein befreiender Schock. Aus ihm heraus lacht der dicke Buddha sich kaputt. Über sich lacht er – und damit über die ganze Welt.
Ist der Vorhang einmal gefallen, dann ist das Theater im Grunde vorbei. Was übrigbleibt davon an Albträumen, sind nicht nur Spuren ins Gewesene, es sind auch Einladungen, die Spuren zurückzuverfolgen und nachzuvollziehen, was mit Menschen geschieht – wie es funktioniert, das Hexenwerk, wieso es sich singt in uns, das unselige Lied. Der Braunbär indes ist für mich der dicke Bauch des lachenden Buddhas, und dass er Tristan verschlingt, das ist das Verstummen des Liedes. Der Film ist damit zu Ende, sicher. Aber Tristan ist nicht tot, das Leben geht weiter.
Es geht schon gegen Mittag, als ich endlich aufstehe und – wie immer blind – die Karteikarte des Tages aus Karls Wandschrank picke:
Frisch, Max: „Warum ist es immer heute?“
Der Mann hat Recht! Immer ist es heute, obwohl Stunde um Stunde und Tag um Tag vergeht in unerhörter Folgerichtigkeit zeitlicher Kontinuität. Morgen ist es wieder heute, da gibt’s kein Vertun. Auch wenn es übermorgen gestern ist. Und dann gleich wieder der nächste Tag – und wieder ist es heute.
Was soll das?
Tage akkumulieren sogar – unmerklich, heimlich, hinterfotzig sind plötzlich Jahre vergangen, nur weil morgen heute wurde, Tag um Tag. Jahre akkumulieren ebenso hinterfotzig – und am Tag, an dem du abkratzt, ist es wieder heute, jede Wette.
Was soll das?
Gut, meinetwegen, man kann, will man nicht in Tagen denken, das Heute noch spezifizieren, auf die Hundertstelsekunde genau: jetzt! Immer ist es überall jetzt – irgendwo nimmt sich jetzt einer das Leben, anderswo erblickt ein kleiner Mensch das Licht der Welt, jetzt, und kann’s nicht fassen, genauso wenig wie die glückliche Mutter, irgendwo vögeln Pärchen, dass alle Nachbarn es hören, wieder anderswo brechen Herzen, genau jetzt. Zwei Autos, eine Unachtsamkeit, zwei Tote, jetzt. Zwei streiten, dass die Kinder weinen, ein müder Kellner kratzt sich den Hoden, ein altes Herz hört auf zu schlagen, jetzt. Ein Junge seziert eine Ameise bei lebendigem Leibe, ein Betender kniet am nächtlichen Ozean nieder, ein Alter findet den Weg nicht mehr, ein Obdachloser erwacht in seiner eigenen Kotze, eine Studentin liest Goethes „Faust“ bei Kerzenlicht, ein Vater vergewaltigt seine kleine Tochter, eine Stewardess teilt lächelnd Kopfhörer aus, und mancher Menschen Sehnsucht rennt ins Leere, just in diesem Moment. Was nicht alles geschieht, was man nicht alles verpasst in diesem einen Augenblick! Und was man nicht alles niemals erleben, niemals verstehen wird – man könnte verrückt werden! Immer nur Bruchteilchen des Ganzen, das eigene Jetzt, die eigene ach so unsagbar lächerlich beschränkte Sicht der Welt – schlimm, das zu wissen!
Hinzu kommt, dass selbst das Gewusste gar nicht stimmt bei näherem Hinsehen. Kalendermonate etwa, Wochentage, Uhrzeiten – alles reine Menschenerfindung. Es ist zum Beispiel gar nicht Sonntagvormittag –
man ist umsonst deprimiert!
Entsprechend schießt du deine Silvesterraketen völlig umsonst in den Himmel, und du feierst natürlich auch umsonst Weihnachten oder Geburtstag. Auch ist deine Brust von jeher umsonst stolz angeschwollen, wenn die Nationalhymne erklungen ist, es gibt nämlich gar keine Länder, die roten Linien auf dem Globus hat der Mensch sich von jeher immer nur ausgedacht, Gott weiß, wofür. Namen sind natürlich auch nur in die Leere gepustete Seifenblasen, genauso wie Titel, es gibt ja nicht einmal ein Abitur, geschweige denn den Hochschulabschluss. Du kannst noch so viele Urkunden und Zeugnisse zum Beweis vorlegen, bei genauerem Hinsehen ist dein Lebenslauf von vorn bis hinten reine Fantasie. Nicht einmal dein Haus ist wirklich deins, das Grundbuch wurde nur erfunden, damit du dir einbildest, Mutter Erde würde kleine Stückchen Land verkaufen. Von den bedruckten Fetzen Papier in deiner Sparbüchse müssen wir gar nicht erst anfangen. Oder der Ehe. „Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau!“ Kaum zu glauben eigentlich, dass da Tränen der Rührung fließen. Aber gut, man landet ja auch wirklich im Gefängnis, wenn man seine Steuern nicht zahlt, oder in der Klapse, wenn man das ganze Theater leid ist und der Welt gute Nacht sagen will. Gesetze und Gerichte, auch Erfindungen der abstrusesten Art, monströs geradezu!
Oder Gebote, Kopftücher, Gewänder, Uniformen überhaupt. Dass man dran glaubt, dass man stramm steht davor, dass man sich wichtig fühlt darin, dass es plötzlich ernst sein soll und etwas anderes, als wenn Kinder Cowboy und Indianer spielen! „Jawohl, Herr Oberstleutnant, zu Euren Diensten, Hochwürden, natürlich, Herr Professor, sofort, Frau Präsidentin!“, heißt es allen Ernstes, und man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen allein von der Sprache her! – schließlich ist die ja auch nur erfunden, Worte an sich sind doch vollkommen aus der Luft gegriffen. Bis auf einige Ausnahmen vielleicht, „Uff!“ zum Beispiel oder „Iiih!“ oder „Oh!“. Und „Ah!“ beziehungsweise „Aua!“. Vielleicht auch ein paar längere Worte wie „Miau“ oder „Wuff“ oder „Kuckuck“. Aber „Ich“ zum Beispiel, was soll das sein? Oder „haben“ oder „Hunger“. „Ich habe Hunger!“ – wo kommt das her, was soll das?
Und so ist es mit allem, was man so kennt und, naiv, wie man ist, für bare Münze nimmt. Wenn man das Sparschwein irgendwann aufbricht und Münze für Münze genauer unter die Lupe nimmt, entpuppt sich jede einzelne als schlechte Fälschung. Und zwar ausnahmslos. Was natürlich den Verdacht nahelegt, dass es sich bei einem selbst ebenfalls um eine schlechte Fälschung handelt. Dass der Zweck des eifrigen Sammelns vielleicht immer nur darin bestand, kunstvoll zu kaschieren, das an einem selbst auch nichts echt ist und das eigene Leben reines Theater. Dass man das Lied der Selbstverhexung heimlich gerne singt und sogar selber komponiert, weil alles Gift auch heilsam ist und ohne die Schlange alles noch viel schlimmer. Denn in Wirklichkeit ist ja nicht nur dein Abitur gefälscht, sondern alles an dir, von der Geburtsurkunde, bis zum Grabstein hin. „Hier ruht x, geboren y, gestorben z. Es stimmt einfach nicht, es stimmt einfach nichts. Darum sieht die Welt ja auch an dir vorbei – weil es dich eigentlich gar nicht gibt.
Überhaupt, der Mensch, dieses Wesen, das imstande ist, Derartiges zu denken – ein Organismus, der hauptsächlich aus Wasser und Luft besteht. Des Menschen Inneres will man sich erst gar nicht vorstellen. Darmschlingen, bevölkert von Milliarden Mikroben, schön versteckt unter der Bauchdecke, zwanzig Meter oder noch länger, eine endlos stinkende Kotstraße in Richtung Anus, und nur zwei kleine Schließmuskeln am Ende des Tunnels ersparen uns bis auf Weiteres die Windel.
Was soll das?
Oder nehmen wir nochmal die Erfindung namens Ehe, die Spuren vom Altar aus zurückverfolgend. Zum ersten Kuss, zum Beispiel. Der wurstförmigen rosa Zunge, die sich in die obere Öffnung der Kotstraße des andern schiebt – eine von Milliarden Mikroorganismen bewohnte Höhle des Grauens, eine düstere Brutstätte zehntausender Krankheiten, die von Natur aus nicht nach Menthol riecht, sondern nach Fäulnis und Tod – und von der dort ansässigen Zunge empfangen wird, die dann ihrerseits sich vorschiebt in das fremde Maul.
In der ersten gemeinsamen Nacht verschiebt sich das Spiel Richtung Ende des Tunnels, hier die Blutwurst, die aufgeht wie ein Hefeteig und fast aus allen Nähten platzt, dort die glitschige Höhle, die schimmelt vor Pilzen und sich öffnet zum Kopf der Wurst hin, auf dass er hineingleite, tiefer und tiefer, bis die ganze Wurst darin verschwunden ist. Und nachher sagt man: „Ich liebe dich.“
Überhaupt das Spiel mit den zwei Hälften. Rechtes und linkes Herz, rechtes und linkes Hirn, zwei Hände, zwei Füße, zwei Eier, zwei Titten. Was soll das? Es kann doch nicht gesund sein, man ist doch gespalten nicht nur vom Kopf, sondern vom Ganzen her, wir denken und sehen und fühlen doch notgedrungen von Grund auf schizophren! Wie sonst könnte der Mensch von außen auf sich schauen und mit solcherlei Betrachtungen daherkommen – während er doch drin ist in sich? Es ist doch gar nicht möglich, es muss doch Einbildung sein, eins von beiden muss doch mindestens Einbildung sein.
*
Am Nachmittag geht Schiller doch noch zu einer der Einführungen: Qi Gong.
Der Lehrer steht vorn auf dem Podest und strahlt. „Hello, everybody! It’s wonderful to be here with you! My name is Jan.“
Er darf natürlich reden während der Übungen, die er ja erklären muss, nicht nur vom Ablauf, sondern auch von der Philosophie her.
„What I want to teach you: Sheng Zhen Wiji Yuan Gong!“
Der Meister dieser Qi-Gong-Art habe vor wenigen Jahren die Eingebung gehabt, alles hinter sich zu lassen, um fortan nur noch diese eine Qi-Gong-Art zu lehren –
und zwar nach theoretischer wie praktischer Anleitung von jenseitigen Kräften. Schiller wartet auf die Pointe. Stattdessen startet das Warm-up. Einige der anderen Touristen blicken auch ungläubig drein — eine von höheren Mächten inszenierte Esoterik-Show!
Fisherman on his boat – Jan demonstriert: Arme nach vorn werfen und in Stirnhöhe zurückziehen, Ellbogen außen, Hände mittig, sodass die Handinnenflächen sich der Stirn nähern. Mittels dieser Übung, so erklärt er, werde Lebensenergie in das hinter der Stirn befindliche Energiezentrum geführt. „Begiiinnn!“
Schiller schließt die Augen, einen Moment lang ist er wirklich auf dem Ozean. Zehn Tage kreuz und quer durch die Antillen, eine leichte Brise, das Segelboot davon gewiegt trotz Anker, J, wie sie dasitzt, aufrecht und still, die Lider geschlossen in der prallen Sonne, ein leises Lächeln auf den Lippen, Schiller, der reglos liegt, dem Rhythmus des wogenden Meeres ergeben, und nur das Schaukeln des Bootes bewegt das Liebesspiel, und im Geiste nur streichelt seine Hand ihre nackten Brüste. Der Horizont in warmes Gelb getaucht.
Noch einmal, ruft Jan, für die Traumtänzer: ausatmen beim Strecken der Arme, einatmen bei der Bewegung der Hände in Richtung Stirn. Der Fischer steht auf seinem Boot, blickt in den Sonnenaufgang über dem Ozean und atmet ihn in sein drittes Auge. „Begiiinnn!“ Als er die Hände wieder und wieder nach vorn wirft und die Kraft der Sonne wieder und wieder zur Stirn führt, vermeint Schiller einen Augenblick lang, die Energie zu spüren, die seine Hände auffangen, ein weißes Licht vielmehr, welches das Hirn durchdringt. Die Kraft der Imagination!
Jan streckt die Arme gen Himmel. „Now become a giant! Let the energy of the universe melt and condense inside your belly! Begiiinnn!“
Und alles sammelt die universelle Energie im eigenen Nabel!
Als Psychiater hat man es natürlich täglich mit Patienten zu tun, die derlei Spiele der Imagination leider nicht von der Realität unterscheiden können. Frau Zell zum Beispiel, die Schiller noch im Detail präsent ist, aber nicht des Falles wegen, sondern aufgrund des Disputs mit Schwester Swetlana seinerzeit – und ihrer Hetzjagd gegen ihn in den Wochen und Monaten danach, die ihn letztlich den Job kostete. Schiller selbst schrieb den Aufnahmebericht.
Diagnose: reaktive Depression.
Erfüllte Diagnosekriterien: traurige Stimmungslage, Interessenverlust, Antriebsschwäche, Schlaflosigkeit und Appetitverlust seit mehr oder minder drei Wochen. „Sie kocht und isst überhaupt nicht mehr“, ergänzt der Ehemann. Nach Schillers Ermessen dürfte die Krise